„Drei, zwei, eins, los!“ Punkt Mitternacht hämmern wir an das Hotelzimmer von Patrizia, um in ihren Geburtstag zu feiern. Genau das wollte sie vermutlich vermeiden - und hat sich deshalb schon heimlich beim Essen in der „Blauen Traube“ davongemacht. Wir anderen aber hatten einfach zu viele einheimische Spirituosen zu uns genommen. Forsthäusle, Lustiger Papa, Teufelswurz, egal. Jetzt muss eben noch auf dem Hotelzimmer weitergefeiert werden. Mit dabei: Graciano Rocchigiani. Wer Rocky (oder Gratze, wie ihn weniger poetische Menschen nennen) kennt, kann den nächsten Abschnitt überspringen.
Graciano Rocchigiani ist der Sohn eines sardischen Eisenbiegers. Die Schule hat er nach der sechsten Klasse wegen Pneumonie abgebrochen. Nicht weil er welche hatte, sondern weil er das Wort nicht buchstabieren konnte. Mit seinem Bruder Ralf verprügelte er mal acht Polizisten auf dem Kurfürstendamm, und wegen Beamtenbeleidigung erhielt er eine achtmonatige Bewährungsstrafe. Ach – und Graciano ist Ex-Weltmeister im Boxen, Halbschwergewicht. 122 Kämpfe, 109 Siege. Der Weltmeistertitel wurde ihm widerrechtlich aberkannt, weil dem Verband WBC zwei andere Boxer lukrativer erschienen. Rocchigiani störte nur, deshalb wurde er kaltgestellt. Eine Aktion, die die WBC bereuen sollte. Mittlerweile hat Rocky den Prozess gewonnen. Und jetzt sind sie rechtskräftig, die 31 Millionen Dollar Schadensersatz. Rocky hat allerdings noch keinen Pfennig davon gesehen, weil die WBC kurzerhand Insolvenz anmeldete. Wie so oft bei Rocky – er klopft kurz am Tor zum Glück, aber das Glück öffnet nicht.
Zuerst aber klopfen wir an das Hotelzimmer von Patrizia. Die öffnet widerwillig, und wir sind drin. Alkohol ist genügend da, Musik auch. Wir trinken. Immer lustig dazwischen wuselt der kleine Hund von Rockys Freundin. Er springt aufs Bett, hüpft an Leuten hoch und ist so quirlig wie es einem jungen Langhaardackel geziemt. Sein Name ist Rambo – aber weil mir „Rocky“ und „Rambo“ allzu verwandte Universen erscheinen, gefällt es mir, den Hund schon den ganzen Tag „Baudelaire“ zu nennen. Baudelaire jedenfalls ist angesichts der vielen Menschen hypernervös. Er fängt an, die Beine von Menschen zu bespringen, die mit Zoophilie nicht viel am Hut haben, jedenfalls nicht im Moment. Unter anderem berammelt er auch meinen rechten Unterschenkel. „Hey, ist der Hund schwul, oder was?“ sage ich lachend.
Auf einmal steht Graciano vor mir. „Wir haben jetze een echtet Problem, wa?“ versucht er zu artikulieren. „Keener nennt meenen Hund schwul, wa?“ Die Musik verstirbt, Gespräche verrecken, meine Runde weicht einen halben Meter zurück
Ich beschwichtige, ich wollte deinen Hund nicht beleidigen, war nur Spaß, nichts für ungut usw. Währenddessen rammelt Baudelaire unverdrossen weiter an meinem Knöchel. Später wird man mir vorhalten, ich hätte eine gefühlte Größe von 110 cm gehabt. Mag sein – aber wie soll man reagieren? Der Mann ist gefährlich, und sollte er sich tatsächlich dazu entschließen, mir eine zu zimmern – mir hülfe nicht einmal ein Revolver. Denn Gratzes Faust wäre schneller in meinem Unterkiefer als meine Hand am Halfter.
Er redet noch auf mich ein, unverständliche Sätze in hohem Tempo. Ich erhasche nur die Wörter „Fernsehdeppen“, „Vertrag“, „Bewährung“, mehr nicht – sei es, weil er undeutlich spricht, sei es, weil ich so viel getrunken habe, sei es, weil mir das Adrenalin in den Ohren rauscht. Jetzt wünsche ich mir Dariusz Michalchewski herbei, den Mann, der Gratze einst einen K.O.-Leberhaken versetzte. Aber Dariusz treibt galante Konversation auf dem zwei Meter entfernten Bett von Patrizia. Nah genug für einen Feenwunsch, danke, Fee – aber leider zu weit weg für einen reellen Ruf, der zeitige Hilfe verspricht.
Auf einmal, unendliche Sekunden später, lehnt Gratze seinen Kopf auf meine Brust. „Ha’ck nur Spaß jemacht, wa?“ sagt er, und ich hoffe, dass er recht hat. Er lächelt, für eine Sekunde sieht er richtig nett aus und ich beschließe, ihn wieder „Rocky“ zu nennen, und seinen Hund „Rambo“. So wie es sich gehört.
Heute lese ich, dass Rocky im Dezember 1996 im Wiener Prater einem Hausmeister einen Nasenbeinbruch zufügte, weil dieser ihn wegen seines Hundes (damals ein Husky) beschimpfte. Daraufhin wurde Rocky wegen schwerer Körperverletzung zu einer viermonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt. Und erst jetzt merke ich, dass das Glück, an dessen Tür Rocky so oft erfolglos klopft, mir am Freitagabend geöffnet hat. Dieses Bild ist zwar ein wenig schief, aber egal. Danke, Gratze.
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