Fidel und Che gehörten einmal zu meinen Säulenheiligen. Che hat dann noch rechtzeitig das Fach gewechselt und ist Ikone geworden, während Fidel in der Hall of Shame direkt neben Kim Jong zu stehen kommen wird. Ohne Fidel wäre ich andererseits nie nach Kuba gereist, obwohl 1993 längst alles klar war. Dass ich ihn auch leibhaftig sehen sollte, ahnte ich am Anfang dieser Geschichte nicht.
Die Iljuschin der Cubana de Aviación, die mich von Barcelona nonstop nach La Habana bringt, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Mehr als 90% der Passagiere sind Männer, ein nicht zu übersehender geschlechtsspezifischer Überhang, der zwischen all den möglichen kleinen Nostalgien ein libidinöses Hauptmotiv freilegt.
Spanier jedenfalls müssen nicht mehr nach Thailand fliegen. In Kuba spricht man ihre Sprache, und die jungen Prostituierten nennt man hier nicht putas sondern jineteras, was der SPIEGEL, in dem ich gerade einen Artikel über Kuba lese, mit „Reiterin“ übersetzt, obwohl es das kubanische Wort für „Pumpgenie“ ist. Aber der Spiegel schreibt ja auch als einziges Weltblatt „Che“ beharrlich mit einem falschen Akzent und Comandante mit zwei m, und jetzt erfahre ich auch, dass die SPIEGEL-Reporterin in einem Taxi „mit quietschenden Reifen durch die Altstadt von Havanna gerast“ ist, wo doch Radfahrer schon Mühe haben, sich durch das Fußvolk in den engen Gassen von La Habana Vieja zu schlängeln und die wenigen Amischlitten aus den fünfziger Jahren, denen man dort begegnet, im Vorbeifahren von den Passanten liebevoll gestreichelt werden, was von selbst ein Tempolimit setzt. Ich würde jetzt gerne rauchen, aber das ist im Land der Cohibas verboten, solange man in der Luft ist.
Im Aeropuerto internacional Jose Martí stehen drei oder vier Flugzeuge herum, aber es dauert doch eine gute Stunde bis mein Koffer heranruckelt. Kontrolliert werde ich nicht. Die Shit-Ration für 10 Tage habe ich umsonst sorgfältig ins Suspensorium eingearbeitet. Umsonst auch der Voucher für das Taxi. Ich würde besser mit einem toten Huhn winken, das auch mit der Rationierungskarte in Havanna nur schwer erhältlich ist, weswegen sich die Stadtbewohner die Hühner auf dem Balkon halten. Dafür werde ich schließlich in einem Taxi mit Klimaanlage in mein Hotel gebracht. Selbstbau, wie mir der Taxifahrer stolz erklärt. Aus einem russischen Staubsauger. Auch die ungarischen Autobusse sind am Aussterben. An ihrer Stelle ziehen Sattelschlepper abenteuerlich zusammengeschweißte Fahrgastzellen durch die Strassen.
Eine Fahrt quer durch die Stadt bringt dem Taxifahrer gerade zwei Dollar, 75 Dollar muss er im Monat dem Staat abliefern. „Una mierda“, sagt der Taxifahrer zur Windschutzscheibe. Mein Hotelzimmer entspricht pro Tag seinem Jahresverdienst: 155 Dollar. Klar, dass man sich wie ein Schuft vorkommt, wenn man das Touristenghetto verlässt. Schon an der nächsten Straßenecke spricht mich ein Halbwüchsiger an. Er will mir Cohibas, Marihuana und dann die eigene Schwester verkaufen. In dieser Reihenfolge. Er kann sich gar nicht mehr erholen vor Lachen, als ich meinen Shit hervorklaube. Wir setzen uns dann auf die Ufermauer am Malecón und rauchen eins. Er nennt sich Rambo, ist achtzehn, hat Abitur und seine Mutter arbeitet als Ärztin in einem Spital (15 Dollar im Monat). Sie braucht dringend neue Schuhe, sagt er. Ich schlage ihm eine Halbtagsstelle als Privatsekretär vor, 5 Dollar pro Tag plus Verpflegung.
La Habana schmerzt. Es gibt keine Elendsviertel, die ganze Stadt ist eins. Bis auf die Stadtteile Miramar und Vedado, wo die Konsulate untergebracht sind und die meisten Regierungsmitglieder wohnen. Die Altstadt sieht auf weite Strecken so aus wie das Beirut der achtziger Jahre, auch wenn einigen der Trümmerbauten ein groteskes bonbonfarbiges Make-up aufgemalt ist. Ein Onkel Rambos wurde von der Partei zwangsverpflichtet und arbeitet jetzt für ein Trinkgeld an der potemkinschen Fassade des Hauses, in dem er wohnt. Alle Türen zu den Kleinstwohnungen sind offen, das Leben findet im Hausflur statt. Ein anderer Onkel wohnt drei Straßen weiter, etwas behaglicher, aber weil er Blockwart ist, darf ich dort nur hin, wenn ich keine politischen Fragen stelle. Dafür darf ich mit Rambos Mutter reden. Sie ist eine „Zwar, aber-Fidelista“, denn, nicht wahr, es gibt in Kuba kaum noch Analphabeten und für Kinder bis sechs Jahre ist die tägliche Milchration gesichert! Den scheußlichen Kaffee müssen wir schwarz trinken, dafür mit Rum. Rambos Vater hält das eher umgekehrt. Er ist arbeitsloser Lastwagenchauffeur und stiert während unseres Gesprächs mit stumpfem Alkoholikerblick vor sich hin und redet kein Wort. Die Mutter ist Mulattin, der Vater weiß, was viele Fragen auf ein Mal beantwortet.
Am nächsten Tag besuchen wir den jungen Maler Luis Noa. Das Schlafzimmer ist gleichzeitig das Atelier. Die Staffelei steht zwischen Wand und Bett, auf dem auch die Besucher empfangen werden. Er malt mitten in seinem Unglück fröhliche Bilder, die an die Symbolwelt Mirós erinnern. Verkaufen kann er kaum etwas, und wenn, dann für ein Butterbrot. Seine Malerei ist nicht staatstragend.
Mit Rambo unterwegs zum touristenfreien Bauernmarkt will ich Zeitungen kaufen. Es gibt nur „Granma“, die zweitgrößte Zeitung „Juventud rebelde“ erscheint neuerdings nur noch wöchentlich. Der Revolution geht das Papier aus. Für ein Land mit staatseigener Presse ist das der Gipfel der Misswirtschaft. Statt „Granma“ zu lesen könnte man geradeso gut eine Viertelstunde lang auf die verbissenen Parolen starren, die allerorten von Hausmauern und Plakatwänden in sich hineinreden: „Aqui el socialismo vive, vale, crece y triunfa!“ Aha.
Den Abend verbringe ich allein und stürze nach dem Besuch aller Lieblingsbars Hemingways so abgrundtief ab, dass ich meinen Mietwagen nicht mehr finde, mich aber trotzdem genau zu erinnern glaube, wo ich ihn geparkt habe, ihn dann aber weil er nicht mehr dort ist, auf der nächsten Polizeiwache als gestohlen melde. Das ist ein schwerer Fehler, denn in Havanna gibt es keinen Autodiebstahl. Also behält man mich gleich auf der Wache und nimmt mir den Pass ab. Als ich sage, dass ich mich vielleicht getäuscht und das Auto anderswo geparkt hätte, sperrt man mich in einen Raum mit einem guten Dutzend jineteras. Die Strafe ist also gleichzeitig Belohnung, Glück im Unglück wie die 76 Jungfrauen im Islam-Himmel. Die jineteras tuscheln und lachen und schnorren Zigaretten.
Zwei Stunden später hat die Polizei meinen Wagen gefunden und ich werde gegen eine Bearbeitungsgebühr von 20 Dollar entlassen. Ab jetzt habe ich auch eine Privatsekretärin und wir fahren am nächsten Tag zu dritt zur Playa del Este, dem Ballermann 6 der untergegangenen DDR. Die barackenähnlichen, freudlosen Unterkünfte haben den Charme eines Straflagers. Auf den Wegen wächst Unkraut, die Fensterläden sind verrammelt. Dafür haben wir den ganzen Strand für uns.
(weil es ein langer Weg ist, folgt noch eine Fortsetzung)
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