Als ob dieser Sommer nicht schon anstrengend genug wäre, wird vermittels aller Berliner Dudelsender, und es gibt Dudelsender wahrlich nicht zu knapp in der Welthauptstadt des Dudelfunks, die Stadt flächendeckend mit einem Sommerhit bedudelt: „Görli Görli“ von P.R. Kantate, ein Reggae auf der Grundlage eines älteren Sommerhits namens „Girlie Girlie“. Allenthalben singt und klingt es aus den aufgerissenen Fenstern: „Oh Mann ick wohn ja nu Görli Görli, Alta, dit macht da fix un ferti“ und „Ick wohn nich am Kotti Kotti und ooch nich am Stutti Stutti, ooch nich am Boxi Boxi“ und „Ick wohn inne Wiena, bin een Balina und ooch een Schlawina, sing üba’n Hintahof meene eegnen Lieda“ und „Wo wo wo, wo wohnst du? Wo wohnt deine janze Crew? Wo fühlst du dich zu Haus? Was siehst du von deinem Fenster aus?“
Das ist ein Text, der mir so recht aus dem Herzen spricht, denn auch ich wohne weder am Kottbusser Tor noch am Stuttgarter oder am Boxhagener Platz, sondern in der Wiener Straße am Görlitzer Bahnhof. Von meinem Fenster aus sehe ich gleichfalls einen Hinterhof, allerdings aus etwas anderer Perspektive als P.R. Kantate. Der wohnt nämlich direkt unter mir, und sein sangesfreudiger Mund befindet sich meist zwischen drei und fünf Meter von meinem ruhebedürftigen Ohr entfernt. Ich kann also bestätigen, daß der Text die lautere Wahrheit spricht. Der Textdichter singt tatsächlich üba’n stark hallenden, schallverstärkenden Hintahof seene eegnen Lieda; präziser: seen eegnes Lied. Er hat ja nur das eine.
Im vergangenen Frühjahr geschah Abend für Abend dasselbe: Eine auftrumpfende Akkordfolge aus synthetischen Klängen vermittelte mir die unheilvolle Botschaft, daß der Schlawina unter mir Windows-XP zu starten im Gange war. Sodann programmierte er basslastige Rhythmussequenzen ein, zu denen meine Parkettdielen sofort beschwingt zu tanzen begannen, und darüber sang er mit kräftigem Organ immer und immer wieder „Ick wohn ja nu Görli Görli, Alta, dit macht da fix und ferti“, eine Liedzeile, die ich nicht anders als auf mich persönlich gemünzt verstehen konnte. In dieser Zeit wurde ich Stammkunde der Firma Ohropax GmbH in 61269 Wehrheim.
Und jetzt? Sehe ich das ZDF-Mittagsmagazin mit einem Porträt des Newcomers P.R. Kantate mit seinem Hit „Görli Görli“. Schlage ich die Berliner Morgenpost auf und erblicke einen halbseitigen Artikel über den Schöpfer von „Görli Görli“, P.R. Kantate. Fahre ich durch die Stadt und stoße auf Plakate, die ein Reggaefestival ankündigen, mitsamt dem Special Guest P.R. Kantate („Görli Görli“). Zappe ich mich durchs Abendprogramm und bleibe beim Sender RBB hängen, wo man vor einer erstaunlich großen Menschenmenge P.R. Kantate „Görli Görli“ intonieren sieht. Ach, über gewaltige Macht verfügt der Gott des Ruhms, doch er hat einen Silberblick und greift zuweilen knapp, ganz knapp daneben.
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