Als meine Lieblingskusine galt lange Zeit Kusine Irene. Sie hatte als Kind das Talent dabei zu sein bei uns größeren, weil sie erstaunliche Durchsetzungskräfte besaß.
Als Kleinstkind nannte sie sich „Nenni“ und liebte es einen „Fotz“ zu machen. So nannten das damals die Erwachsenen: „Schaut, sie macht schon wieder den Fotz.“ Das ging so, sie spitzte die Lippen aufs Äußerste und sah dabei böse drein. Später griff sie auch zu anderen Maßnahmen. Sie war so kräftig, dass sie, als sie einmal bei mir in den Ferien war, eine Holzwäschestange ausriss und diese Thomas auf den Kopf knallte. Da musste sie in der Ecke stehen, ich weiß noch, dass mich das freute, ich war ja gänzlich brav und rächte mich an anderen Kindern nur im Verborgenen.
Mein Großvater, allerliebst, hatte die Aufgabe, auf Kusine Irene seit Babytagen aufzupassen. Eine Aufgabe, die ihm immer schwerer fiel, da Irene natürlich nicht gänzlich brav folgte und eigene Wege ging, sie lief ihm gerne auf der bekannten Semmeringer Hochstraße davon. Das wiederum brachte meinem Großvater Bekanntheit ein. Die Gäste, das waren alle Leute für uns, denen man sofort ansah, dass sie keine Semmeringer waren, sagten: „Ach, der liebe Großvater und seine lieben Enkelinen.“ Irene hatte den größten Kinderwagen, den man sich nur vorstellen kann, er wurde die blaue Kutsche genannt. Wenn wir mit der blauen Kutsche unterwegs waren, konnten sich noch zwei Kinder an der Seite des Wagens anhängen, dann brauchten wir den Gehsteig der Hochstraße ganz für uns allein. Jeder musste ausweichen. Die Gäste mussten wir immer schön laut grüßen. Am Semmering spricht man hochdeutsch.
Großvater flocht uns Mädchen vor dem Spaziergang die Zöpfe, das dauerte unendlich lang, ich habe viele Kusinen. Er hatte so weiche Hände, das machte sicher auch die Babycreme von Irene, und er hatte sehr viel Geduld und das Scheitelziehen allein dauerte eine kleine Ewigkeit. Wichtig war, dass die Zöpfe exakt symmetrisch waren und die Spangen oder Maschen nach vorne sahen. Irene saß auch nicht ruhig beim Zöpfeflechten. Sie aß nicht alles auf, sie aß überhaupt nur, was schmeckte, sie hatte ein gesundes Trotzpotential.
Irenes andere Großeltern führten damals das elegante Hotel Wagner. Dort stiegen damals hauptsächlich reiche alte Damen ab, uninteressant für uns Kinder und grüßen musste man umso lauter.
Doch eines Tages, stieg das Ehepaar Jonas im Wagner ab. Herr Bundespräsident Jonas war für uns schon interessanter. So kam es, dass Irene und der Großvater auch dem Bundespräsidenten auf der Hochstraße begegneten. Die Presse war sogleich zur Stelle, ein Blitzlichtgewitter, es entstand ein Titelbild für die Kronenzeitung: Im Hintergrund Großvater Neumayer, ganz scharf: Bundespräsident Jonas und Kusine Irene geben sich die Hand.
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