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Thema: Heinz, Carlos Alberto (Der Ermordete aus dem 4. Stock)

  1. #1
    der hausm Avatar von anko
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    Der Ermordete aus dem 4. Stock

    Der Ermordete aus dem 4. Stock

    Seit einem dreiviertel Jahr habe ich ein Büro in Berlin, das heißt, ich bin der Mieter eines sehr kleinen Schreibtisches einer kleinen Filmfirma, die ein sehr großes Büro und viele Schreibtische hat und daher jede Menge Platz für Menschen wie mich.

    Das Büro liegt direkt an der Grenze zwischen den Bezirken Berlin-Mitte und Kreuzberg und hat die Adresse Friedrichstraße Ecke Kochstraße. Das Haus, in dem sich das Büro befindet, gehört dem Bezirk Kreuzberg, im Erdgeschoß befindet sich eine schlechtgehende Buchhandlung, in den Stockwerken zwei bis drei die Volkshochschule, aber das weiß ich nicht so genau, denn über den ersten Stock bin ich bis heute nicht hinausgekommen, da liegt nämlich mein Schreibtisch.

    Als ich nun vor rund einer Woche in "mein" Büro kam, war erst alles, wie gewohnt: Kaum jemand da, Kiki, die Sekretärin, stand am einen Spalt geöffneten Fenster, rauchte und sah dabei in den tristen Hinterhof hinunter, die riesigen Räume leer und erfüllt vom Lärm des heftigen Autoverkehrs auf der Kochstraße.

    Dann kam Stephan R., der Firmenbesitzer und Hauptmieter, und alles war vorbei. Er fragte, ob ich Carlos Alberto Heinz kenne, den Mieter aus dem vierten Stock. Kannte ich nicht, worauf Stephan sagte: "Die ganzen Schallplatten, die der Postbote immer bei uns abgegeben hat und die da draußen im Flur gleich neben der Eingangstüre stehen - die gehören ihm."

    Ja, die Schallplatten, die kannte ich, denn ich hatte sie schon öfter in Empfang genommen und mich darüber gewundert, wer heute noch Vinyl kauft und dann noch dazu in solchen Umfang.

    Und nun war der Empfänger der Schallplatten tot. Ermordet.

    Carlos, so erzählte Stephan, habe eine Reihe von Geschäften gemacht, die er nie durchblickt habe, unter anderem habe er ein Tekkno-Label betrieben, aber aus Geldmangel andere Gesellschaften gegründet, Geld über Förderungen besorgt, "was weiß ich, ich habe mich jedenfalls so lange darüber gewundert, daß Carlos mit seinen unübersichtlichen Geschäften über die Runden gekommen ist, bis ich eines Tages überzeugt war: Er ist eine von diesen Berliner Existenzen, die nie untergehen und die es immer schaffen."

    Ganz so gut konnten die Geschäfte dann doch nicht gegangen sein, denn Carlos war immer wieder gezwungen, Taxi zu fahren, um sich und sein Label über die Runden zu bringen. Und nun war ihm dieses Taxifahren zum Verhängnis geworden.

    Man hatte nämlich in der Gegend von Eberswalde das völlig zertrümmerte Taxi von Carlos gefunden, darin aber eigenartigerweise einen jungen toten Mann. Die Polizei hatte erst geglaubt, er sei der Taxifahrer und habe einen Unfall gehabt - bis sie in dem Wagen ein Bajonett und einen Handschuh gefunde hatte, beide mit Blut beschmiert, das eine andere Blutgruppe hatte als das des Toten.

    Es stellte sich heraus, daß der 22jährige Tote den Labelbesitzer ermordert und dessen Leiche in einen Wald geworfen hatte. Er sei sehr schwer zu identifizieren gewesen, war später im Berliner Tagesspiegel zu lesen, da erst der Mörder ihn verstümmelt und dann das Wild ihn angefressen habe. Der Mörder jedenfalls war noch in die Wohnung seines Opfers gefahren, um dort nach Wertvollem zu suchen, habe aber nur einen Computer gefunden. Auf der Fahrt mit dem gestohlenen Taxi dann sei er - welche Ironie des Schicksals - wohl Wild ausgewichen, das die Straße kreuzte, und dabei tötlich verunglückt.

    Da ich Carlos nur in Gestalt der braunen Schallplatten-Kartons kannte, blieb mir sein Schicksal eher gleichgültig, bis auf das ungewisse Gefühl, es habe mich etwas Kalt-Großes gestreift - bis mich die Geschichte heute, drei Tage vor Weihnachten, an diesem Freitag Spätnachmittag, doch noch erreichte und ich Teil von ihr wurde, wenn auch ein verschwindend kleiner. Ich war allein in dem riesigen Büro als es klingelte. Erst wollte ich nicht an die Türe gehen, da es nur für die Hauptmieter sein konnte und die schon seit Stunden in den Weihnachtsferien. Als mir dann einfiel, es könnte ein Paketbote sein, der nun den ganzen Weg vergeblich gemacht hatte und das drei Tage vor Weihnachten, öffnete ich doch noch.

    Draußen stand ein älterer, dicker Herr, 55 bis 60 Jahre alt, lächelte freundlich und fragte mich: "Haben Sie Carlos gekannt?" In seinen Händen hielt er Briefkuverts mit schwarzem Rand und kleine, sichtlich schon oft kopierte Zettel. Als ich etwas Unverständliches murmelte, meinte er: "Ich bin nämlich der Vater von Carlos und wollte Ihnen das hier bringen. Sie haben ihn ja gekannt, ja?" Er sagte das so hoffnungsvoll-bestimmt, daß ich nickte.

    Er gab mir den schwarzumrandeten Umschlag: "Da. Wenn er begraben wird, ist ja niemand da, alle sind weg, auf Urlaub. Es ist am 3. Januar." Er sah hilflos drein, weil er wußte, daß er mit seiner Vermutung recht hatte. Dann gab er mir den kopierten Zettel und lächelte wieder: "Aber am 23. Januar - da haben dann alle Zeit, nicht? Da ist die Einsegnung der Urne." Er sah mich an. "Und wenn Sie oder jemand anderer aus ihrer ... ihrem ... Geschäft, na, aus den Medien, etwas sagen wollen ... will ... eine Rede halten will - das wäre gut. Rufen Sie mich an. Die Telefonnummer steht auf der Traueranzeige."

    Als er das sagte fiel mir die Traueranzeige ein, die die Verwandten eines Freundes vor über zwanzig Jahren aufgegeben hatten. Sie hatte gelautet: "Um Christian H. trauern alle Verwandten und seine "Jeansfreunde"" - die Jeansfreunde waren von Menschen in Anführungszeichen gesetzt worden, die ahnten, daß es da im Leben ihres Christian Menschen gegeben hatte, von denen sie nichts wußten, außer daß sie ihnen sehr fremd waren - und daß sie Jeans trugen. Genau so stand da der Vater von Carlos und wußte nur, daß sein Carlos Freunde oder zumindest Bekannte gehabt haben mußte, die ihm unbekannt geblieben waren. Menschen aus "den Medien", die er jetzt aufsuchte, damit sie sich von seinem Sohn verabschieden konnten. Und wem erzählte er das? Einem Wildfremden, der von seinem Sohn seit genau zwei Minuten ein Photo kannte, auf dem der unbestimmt in die Welt blickte, ganz ohne irgendeine erkennbare Regung.

    Der Vater griff nach dem schwarzumrandeten Kuvert in meiner Hand, um mir die Telefonnummer zu zeigen, unter der ihn alle anrufen sollten, die bei der Einsegnung der Urne etwas sagen wollten. Er öffnete das Kuvert - es war leer. "Ach, so ein ..." - es fielen ihm alle Zettel und Kuverts aus der Hand und segelten zu Boden. Er lachte. Ich habe die Nummer dann mit Bleistift auf die Anzeige geschrieben, unter die Adresse der Eltern, denn sie fehlte.


  2. #2
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    hat fertig gelesen, schaut lange, lange Zeit unbestimmt auf den Monitor, rückt den Kopf kurz weg, dann wieder zurück Richtung Monitor, verharrt weiter in dieser Stellung.

  3. #3
    Avatar von Die Wucht
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    Gott, ist das traurig.

  4. #4
    Moderator Avatar von Klede
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    sprachloses Staunen und Dankbarkeit

  5. #5
    Moderator
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    Anko, wirst du hingehen und dem Ermordeten die erste und letzte Ehre erweisen? Einer muß es doch tun, dem Vater zuliebe.
    we are in the army now.The Army of Sankt Immen.

  6. #6
    Avatar von Bartholmy
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    Ich hatte die Taximord/Wildunfall-Geschichte vor einigen Tagen, wohl in der U-bahn, in der Zeitung gelesen und dabei wahrscheinlich ungefähr gedacht 'Wie kurios'.

    Und nun diese Geschichte.

    Jetzt denke ich 'Weniger Zeitung, noch mehr Forum lesen'.
    Und aber andererseits auch: 'Noch mehr Forum, hmhmhm...'.

    Es ist traurig, alles. Und ich weiß auch nicht.

  7. #7
    sqm
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    Anko, ich will Dich da wissen. Da müsstest Du schon eine gut Ausrede haben, damit wir Dich nichtAnko, den pietätslosen Sack, der lieber in der Wärme seines Büros erzählerischen Profit aus Leichen schlägt als diesen die letze Ehre zu erweisen nenne würden.

  8. #8
    Avatar von der hausm
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    ich werde hingehen

  9. #9
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    sag Grüße im Namen von uns allen, Anko.
    we are in the army now.The Army of Sankt Immen.

  10. #10
    Moderatorin
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    Musste weinen. War allerdings auch ein bisschen übermüdet. Trotzdem sollten ermordete Leute keine Eltern haben dürfen, sowas geht einfach nicht.

  11. #11
    Moderator Avatar von Ruebenkraut
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    Sollten vielleicht alle Berliner Pappen hingehen und Reden halten?


    Nein, wohl doch lieber nicht.

  12. #12
    Moderater Avatar von Murmel
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    Reiht sich bei den Sprachlosen ein.

    Gut, dass Du hingehst, Anko.

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