Mit seiner Mutter häufiger als zwei mal pro Woche zu telefonieren, mag für die meisten etwas seltsam klingen. Aber mir macht es Spaß. Es ist nicht so, dass wir uns immer wahnsinnig viel zu erzählen hätten, wenn wir telefonieren. In der Regel geht es um fast gar nichts. Wir genießen nur die Tatsache, dass wir uns gut verstehen und legen nach kurzer Zeit wieder auf. So simpel ist das. In den letzten Wochen sind unsere Telefonate immer mit einem besorgten Unterton belegt. Sie hat ihren Job verloren. Einfach so. So simpel kann das sein. Scheiße simpel. Einfach Scheiße. Lamentieren hilft nicht, sagt sie. Es geht schon weiter. Ich mach einfach ´nen Laden auf. Mach Dir keine Sorgen, blabla.
Vor knapp fünf Jahren zog ich aus dem Ausland nach Berlin. Zwischenstopp bei meiner Mutter. Wir hatten uns bestimmt ein oder zwei Jahre lang nicht gesehen, und als erstes kritisierte sie meine Frisur. Am nächsten Morgen sollte ich nach Berlin fliegen. Glücklich war ich nicht darüber, aber Kassel oder Karlsruhe wären schlimmer gewesen. Wir quatschten weiter, sie ließ die Arbeit ruhen, trank Kaffee. Die Ladentür ging auf, zwei kräftige Typen kamen rein und schauten sich um. Sie sagten freundlich guten Tag. Einer der Jungs hielt die Tür auf. Wir konnten aus diesem Winkel nicht erkennen, wer na noch angekrochen kam.
Kurze Zeit später stand Johannes Rau im Raum und strahlte meine Mutter an. Ohne Anmeldung. Einfach so. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, noch einmal vorbei zu schauen, bevor er seinen neuen Job antreten würde. Sein Flugzeug sollte ihn am nächsten Tag nach Berlin bringen. Zur Vereidigung. Er setzte sich zu uns, schnorrte eine Zigarette von mir. Eigentlich, so sagte er damals, würde er gar nicht richtig rauchen. Nur so ab und zu mal. Ein paar Minuten später kam auch noch mein Vater dazu. Rein zufällig, wie er sagte, Er hatte nur ein paar Unterlagen im Laden vergessen. So saßen wir eine Viertel Stunde lang zusammen, machten meine Packung Zigaretten leer und tranken Kaffee. Die beiden Typen standen am Eingang und tranken nichts. Sie wollten nichts. Sie wollten nur so da stehen und mit Bitte um Verständnis ihren Job machen. Mein Vater schoss das berühmte Photo fürs Album. Wir gratulierten Rau zu seiner anstehenden Präsidentschaft, und ich verabschiedete mich. Er drückte meine Hand und sagte, dass ich ihn in Berlin doch einmal besuchen kommen sollte. Ich hab’s nie getan, jedenfalls nicht so, wie er es gemeint hatte. Aber Schloss Bellevue ist mir mittlerweile bekannt. Meistens für die verschnarchten Termine dort.
Gestern hat mein bester Freund angerufen. Sein Vertrag wird nicht verlängert. Ab nächste Woche ist er arbeitslos. Zwei Kinder, eines davon mein Patenkind, eine immer fetter werdende Frau und er wissen einfach nicht mehr weiter. Keine Chance in dem Kuhkaff, in dem sie leben.
Politik- und Verwaltungswissenschaftler an der Uni, jahrelange Berufserfahrung in einer Hochschulverwaltung, BAT 2a – weiß der Henker, was das heißt. Ich nehme an, das hat was mit der Besoldungsgruppe zu tun. BAT hin oder her. Es herrscht allgemeiner Einstellungsstopp. Er hat sich überall beworben. Als Bürgermeister, in Landtagen, einfach überall. Nix zu machen. Nach Berlin zu kommen, wäre natürlich ideal. Eine halbe Stunde nach dem Gespräch, nach dem man sich als unfreiwilliger Zuhörer gern hinter die S-Bahn geworfen hätte, ging das Fax durch. Ein Fax an Johannes Rau, in dem ich ihn statt um einen Besuchstermin um einen Job für meinen Kumpel bitte. Vielleicht funktioniert es ja. Vielleicht ist es ja manchmal so einfach. Heute morgen dann die Meldung im Radio. Johannes Rau bricht Tansania-Reise ab und kommt zurück. Es ist wahrscheinlich noch viel einfacher als ich dachte.
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