Mitte der 80er mit 18 in Berlin (West) zu leben war auch kein Spaß. Sicher, das war besser wie drüben, aber mit 18 war die DDR genauso weit weg wie ein 30. Geburtstag. Die eigenen Probleme lagen klar auf den Hand: Verpasse ich meinen Haaren eine Außenwelle? Warum trinke Blue Curacao, wenn mir das Zeug nicht schmeckt? Wie kann ich meinen Bruder dazu bringen, mich auf einer seiner Touren durch Kreuzberg mit zu nehmen? Mein Bruder war nämlich cool. Er trug Pilotenhemden, eine Pilotenbrille (Tropfenform), rauchte Selbstgedrehte und sah mit seinem Seitenscheitel ein bißchen aus wie Christian Klar auf diesen körnigen Schwarz/Weißfotos, die am Postschalter aushingen. Natürlich war sein Aussehen pure Absicht, damit er bei den blöden linken Szenetussi landen konnte. Da Berlin damals hauptsächlich aus blöden linken Szenetussis bestand, hatte er durchaus hier und da Erfolg, den er in seinem winzigen 10qm Zimmer der WG zelebrierte. Mein Bruder konnte mich schon leiden. Was ihn allerdings davon abhielt mich mal mit zu nehmen, war mein Hang zu Benetton-Klamotten, großen Plastikohrringen, einem Hang zu DuranDuran und ungefähr drei Kilo Makeup im Gesicht, deren Nachwirkungen ich heute mit Anti-Aging Pasten versuche Herr zu werden. Ich konnte noch so sehr die "kleine Schwester" Nummer abziehen, der Bruder blieb hart. Ich erinnere mich an Wortfetzen wie "lächerlich" und "mein Ruf geht den Bach runter" und "peinlich" und "die machen dich fertig". Also kaufte ich mir eine dezente Fiorucci Jeans, ohne Engel, ohne Blümchen, ohne dicke weiße Naht, ein doppelt so großes T-Shirt, ein schwarzes Hemd bei C&A und reduzierte das Make Up auf 1,5 Kilo. Weniger ging nicht, das war klar. Der Bruder verdrehte zwar immer noch die Augen, nahm mich aber zum Entsetzen unserer Eltern mit.
Kreuzberg! Mitte des Lebens! Wilde Menschen mit dunklem Blick, die alle sicher irgendwas illegales machen. Wahrscheinlich Hasch rauchen. Ich war ebenso eingeschüchtert wie jung. Nun ist es ja nicht so, das ich niemals zuvor in Kreuzberg gewesen war. Aber ich war eben nicht da, wo die coolen Kindern spielten. In diesen merkwürdigen Kneipen wie das "Arka Noa" (ich glaube es war der Laden, ist aber zu lange her), in dem ich mich ein paar Stunden später wieder fand, wirklich nicht mehr nüchtern, aber aufgedreht wie ein mongolische Rennmaus auf Amphetaminen. Mein Bruder versuchte gerade mal wieder seine "Du, wir in der WG haben einen sehr offenen Zugang zu unserem Geist und der Körper ist doch nur sein Werkzeug" Masche, während ich versuchte mehr Verruchtheit in die Blutbahn zu bekommen, als sich eine Hand auf meinen Hintern legte. Ich drehte mich empört um und blickte auf eine überdimensionale, völlig schwarze Sonnenbrille, ein breitlächelndes Gesicht in dessen einer Ecke lässig eine Filterzigarette hing und das nach unten mit sehr markanten Kinnkerbe abgschlossen wurde. "Na, nochn Bier, Mädel" tönte es aus der Sonnenbrille. Ich sagte nein, er nickte, bestellte zwei Bier und legte seine Hand wieder auf meinen Hintern. Ich drehte mich weg, seine Hand folgte. Mein bescheuerter Bruder war natürlich verschwunden, und ich hatte diesen Perversen im wahrsten Sinne des Wortes am Hintern kleben. Ein Perverser mußte es sein, denn er trug eine alte, stinkende Lederjacke aus dem 70er Jahren. Das Hemd war weit aufgeknüpft, bis unters Brustbein und ich konnte den Schweißfilm auf der blanken Haut sehen. Zudem schwankte er auch ein bißchen, so fern das in dem proppenvollen Schuppen überhaupt möglich war. Da er zum Bezahlen der zwei Bier mit beiden Händen in seiner Geldbörse rumkramen mußte, hatte mein Hintern Pause und ich nutzte die Gelegenheit um mich mit dem Rücken an den Thresen zu stellen. "So, Tach. Ich heiß Jörg" nuschelte er durch seine Zigarette und schob das Bier rüber.
Zwei Stunden später hatte ich ihm dann auch meinen Namen verraten und mich an die Hand auf meinem Hintern gewöhnt. Sie lag da nur, bewegte sich nicht, so als ob er sie einfach dort nur geparkt hätte, weil sie ihm sonst im Weg wäre. Er erzählte viel: von der Türkei, wo er mal gelebt habe, was ich ihm nicht glaubte, und von seiner Arbeit, der Schreiberei und das er für die "Transatlantik" arbeiten würde, was ich ihm nicht glaubte und von tausend anderen Sachen, die ich alle vergessen hatte, aber die ich ihm auch nicht glaubte. Obwohl um uns der Krach mit Händen zu greifen war, erzählte er leise, was ich für einen Trick hielt, damit ich mich näher rüberlehnen mußte. Das was er erzählte klang nach alter Kneipenprosa, aber wie er es erzählte faszinierte mich. Eine leise, sehr melancholische Art ein Blick für traurige Dinge, für den Humor, selbst wenn es einem dreckig geht. Ich mußte kaum reden, nur dastehen, ab und an nicken oder spöttisch gucken, damit er "Doch, doch" sagen konnte, während er seine Brille dann immer ganz nach vorne auf die Nase schob damit ich ihm zum Beweis seiner Ehrlichkeit in die Augen schauen konnte. Ich war langsam betrunken, starrte die meiste Zeit auf seine weiße Brust und kämpfte mit der Lust den Zeigefinger auf seine verschwitzte Haut zu legen um danach daran zu riechen.
Irgendwann kam mein Bruder und nahm mich von ihm weg. Er lächelte nur als ich ging, während ich mich für das Bier bedankte und rumhaspelte, man würde sich sicher hier bald wiedersehen. Seinen Nachnamen hatte ich nicht erfahren, aber ich erinnerte mich, dass er ja angeblich für die "Transatlantik" schreiben würde, wo ich im Autorenverzeichnis auch einen Jörg fand. Naja, kann ja jeder sagen, dachte ich. Geglaubt hab ich ihm erst ein paar Monate später, als ich ihn auf dem Bild wieder erkannte, das in der "tip" neben seinem Nachruf abgedruckt hatte.
Lesezeichen