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Thema: Ingrid Noll und ihre Schwester

  1. #1
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    Ingrid Noll und ihre Schwester

    Wien 1995

    Eine Freundin erzählt, sie hätte Ingrid Noll kennengelernt. Ich war gleich neugierig, hatten mir doch ihre ersten drei Romane recht gut gefallen. Frau Noll sei eine sehr freundliche ältere Dame, wohne ihn einem hübschen Haus und habe ihr ihre Lebensgeschichte erzählt. „Stell Dir vor“, so meine Freundin „ihr Vater war Arzt in China, sie ist in Shanghai geboren und hat ihre halbe Jugend in China verbracht. Die Familie hatte wegen Hitler Deutschland verlassen. 1949 sind sie kurz vor oder nach der Machtübernahme Mao’s aus China zurückgekehrt nach Deutschland. “

    Diese Geschichte ist ja nun nicht unbedingt besonders spektakulär – und doch war ich sofort wie elektrisiert. Etwas ähnliches hatte ich doch schon einmal gehört. Auf Englisch allerdings. Wer hat mir das bloß erzählt - und bei welcher Gelegenheit? Ich kramte in meinem Gedächtnis. Dann erinnerte ich mich wieder.


    Gmunden 1994

    Ich sehe uns in einem verrauchten Lokal am Traunsee sitzen. Bernie aus Melbourne und ich, gemeinsam am Tisch mit Frau B aus Frankfurt am Main. Alle drei sind wir Teilnehmer bei einem Kongress in Gmunden.

    Frau B. saß alleine in einer Ecke, und nachdem alle anderen Tische schon besetzt waren, setzten wir uns zu ihr. Ich kannte sie von ihrem Vortrag, den sie einen Tag vorher bei dem Kongress gehalten hatte, ich hatte Artikel von ihr gelesen - und sehr großen Respekt. Dazu muss man wissen, Frau B ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet und eine respektgebietende ältere Dame, damals etwa 65, eine hagere Kettenraucherin, die um sich eine unsichtbare doch für mich deutliche Mauer hatte mit der Aufschrift „Belästige mich bitte niemand mit banalem Kleinkram!“ Als ich sie zum erstenmal sah und ihrem Vortrag lauschte, wusste ich, diese Frau kann ich verehren, doch niemals ansprechen.

    Und nun saß ich unverhofft hier, in diesem großen, ungemütlichen Lokal, neben Bernie, der nichts ahnte von meiner durch Frau B. erweckten Schüchternheit und sich auch nicht davon anstecken ließ - stattdessen sie augenblicklich freundlich in ein Gespräch verwickelte.

    Bernie – den man durchaus auch als Koryphäe (auf dem selben Gebiet wie Frau B) bezeichnen darf - ist ein unkomplizierter Typ. Mit ihm fühlen sich viele Menschen gleich wohl. So auch Frau B aus Frankfurt.

    Wir saßen also nun in diesem unsäglichen Lokal am Traunsee, bestellten unser Essen und kamen dank Bernie alsbald ins Plaudern. Weil er nicht Deutsch spricht unterhielten wir uns auf Englisch. Und eh ich’s mich versah tat Frau B. etwas, was ich niemals erwartet hätte: Sie erzählte zwei ihr völlig fremden Personen ihre Lebensgeschichte. Auf Englisch, versteht sich. Wie es dazu gekommen war, weiß ich nicht mehr – möglicherweise hatte Bernie sie auf ihr Kleid angesprochen – ein enganliegendes, chinesisches Stück Stoff. Frau B lächelte. Ja, sie hätte gute Kontakte zu China. Sie sei dort aufgewachsen. Ihr Vater war Arzt, lange Jahre hatte die ganze Familie in Shanghai und Nanking gelebt. Sie hatten Deutschland verlassen wegen der Nazis. Dann mussten sie China verlassen wegen Mao. Sie fühle sich heute noch sehr wohl in China und pflege ihre Freundschaften.

    Dies alles fiel mir wieder ein, als meine Freundin mir von Ingrid Noll erzählt hatte.

    Ab diesem Zeitpunkt hatte ich die fixe Idee herauszufinden ob jene Frau B aus Frankfurt die Schwester von Ingrid Noll ist. Irgendwann, so versprach ich mir, würde ich dieses Rätsel lösen. Es ließ mir keine Ruhe. Natürlich fragte ich meine Freundin, ob sie etwas wüßte. Sie wußte nichts von einer Schwester in Frankfurt, hielt es aber durchaus für möglich, denn Ingrid Noll hatte die Existenz von Schwestern erwähnt. Ich erinnerte mich auch, dass Frau B gesagt hatte, sie hätte einige Geschwister.

    Sollte es sich um einen Zufall handeln? Sollte es zwei Frauen geben, deren Vater Arzt war, auf der Flucht vor den Nazis mit der gesamten Familie in China gelandet? Konnte es sein, dass Frau B., von der ich diese Geschichte schon gehört hatte, gar nichts zu tun hat mit Ingrid Noll? Meine Neugier war geweckt. Und Miss Marple in mir wetzte unruhig am Sessel. Doch ich musste noch ein wenig Geduld haben.

    1997 Lissabon

    Sommer war’s und ich wieder einmal bei einem Kongress. Diesmal in Lissabon. Diesmal leider ohne Bernie. Dafür mit – ich hatte es im Stillen gehofft – Frau B aus Frankfurt. Ich erspähte sie am zweiten Tag, gleich am Morgen, rauchend saß sie vor dem Eingang zu einem der Veranstaltungsräume. Wieder hatte sie sich in einen hübschen China-Stoff gehüllt. Diesmal aber war sie nicht alleine, sondern umringt von anderen. Ich hielt Abstand. Ich wartete. Nach zweijährigem Warten kam es auf ein paar Minuten auch nicht mehr an.

    Ich versprach mir, ich würde sie ansprechen. Gleichzeitig fürchtete ich mich vor ihr. Trotz unserer Begegnung am Traunsee war bei mir die Schüchternheit nicht verschwunden und mein Respekt vor ihr nach wie vor der allergrößte. Wie würde sie reagieren? Und was wollte ich eigentlich sagen? Was wollte ich denn wissen? Die Leute, die um Frau B herumgestanden waren, gingen in den Raum. Sie saß jetzt alleine da. Noch rauchte sie. Aber gleich würde sie wohl auch zum nächsten Vortrag gehen . Sie durfte mir nicht entkommen. Ich fasste mir ein Herz und ging auf sie zu.

    „Frau B?“ sagte ich. „Ja?“ Mit ernstem Gesicht blickte sie zu mir auf. Ich biss mir auf die Zunge. Jetzt musst du durch, dachte ich. Jetzt gibt’s kein Zurück. Also sag was. „Frau B. Sie werden sich nicht an mich erinnern.“ „Nein.“ „Wir haben uns mal vor drei Jahren kennengelernt in Gmunden.“ „Ja?“ Sie blickte immer noch ernst, abwartend, aber nicht unfreundlich. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und stammelte „Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?!“ Sie war wohl überrascht. Sie sagte einfach „Bitte.“ Ich dachte, was sag ich jetzt bloß? Wenn ich sie das frage, was ich sie fragen will, wird sie mich fragen, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe und was mich das eigentlich angeht. Und dann sprudelte es aus mir heraus: „Haben Sie eine Schwester die Krimis schreibt?“ Sie riss die Augen auf. „Ich meine, äh, äh, ich meine, äh, haben Sie vielleicht eine Schwester und heißt die Ingrid Noll, ich meine, ist die Ingrid Noll Ihre Schwester?“ Oioioi. Jetzt war es heraußen. Und ich erwartete ein Gewitter. Eine niederschmetternde Antwort à la „Ich wüßte nicht was Sie das angeht!“ Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen passierte etwas völlig Überraschendes.

    Frau B’s Gesichtsausdruck, ja, ihre ganze Körperhaltung wurde plötzlich entspannt, freundlich, fröhlich – geradezu sonnig – und mit einem umwerfenden Lächeln rief sie aus „Jaaaaa – das ist meine kleine Schwester!“ um dann im nächsten Atemzug nachzusetzen „Aber woher wissen Sie das?“

    Ich war gerührt. Da saß diese ältere Dame vor mir, die wohl auf die 70 zuging – und sprach von ihrer „kleinen Schwester“ – damals auch schon über 50.

    Ich erzählte ihr von meiner Freundin in Wien, von unserer Begegnung in Gmunden – einfach, wie ich drauf gekommen war. Sie lachte und freute sich.

    Wir sind dann noch eine Zeitlang dort vor dem Hörsaal gesessen und haben geraucht. Sie unterhielt sich mit mir über Krimis und den großen Erfolg ihrer kleinen Schwester. Es war sehr nett und gar nicht schwierig.

    Frau B. ist eine Koryphäe. Und eine ganz reizende ältere Dame.
    Geändert von Mrs. Passmore (21.03.2004 um 07:55 Uhr)

  2. #2
    Avatar von Herr Genista
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    Das rührt mich seltsam an, allerdings hab ich auch beim Lesen von Johnny Cashs Autobiografie grade ständig Tränen in den Augen, PMS wahrscheinlich.

    Wie heisst denn Frau B mit vollem Namen? Oder wäre das zu indiskret gefragt?
    Zeterum zenseo.

  3. #3
    Remember
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    Unglaublich schöne Geschichte. Ich frug mich, inwieweit der Typus des originären Kettenrauchers noch verbreitet ist. Der letzte Kettenraucher den ich sah, war ein Mathematikprofessor an der Universität Freiburg. Einige Minuten vor der Vorlesung saß er rauchend in dem riesigen Hörsaal unter einem "Bitte nicht rauchen" Schild. Kurz bevor die Glut den Filter erreichte guckte er gedankenverloren umher, schob die Tafel hoch, wodurch der Eimer für das Schwammwasser sichtbar wurde, warf seine Kippe rein, zog die Tafel wieder runter und begann mit der Vorlesung, die er stets 5 Minuten zu früh beendete mit dem Hinweis, jetzt kann gefragt werden. Dann nestelte er sich schnell eine Zigarette aus der Tasche, rauchte, beantwortete die Fragen. Anschließend erneut die Tafel hochgeschoben, ausgerauchte Zigarette in das Schwammwasser geworfen.
    Geändert von Elpenor (21.03.2004 um 17:13 Uhr)

  4. #4
    Avatar von Aporie
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    Sehr fein, zurückhaltend und einfühlsam erzählt, alles Gemeinplätzige vermeidend. Kurz: da ist alles drin, was Ingrid Noll in ihren Büchern abgeht.

  5. #5
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    Sehr verehrter Herr Genista!

    Sie wissen nicht, wer Frau B ist?
    Ich bin enttäuscht.

    Grüße
    DL Passmore

  6. #6
    Avatar von Klingeltonk
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    Ich habe auch keine Ahnung, wer Frau B ist. Aber eine gute Geschichte, wirklich.

  7. #7
    Camembert Avatar von Edding Kaiser
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    [Topinfo]Ingrid Noll hat einen irritierend höflichen Sohn, der Musiker ist und Biber heisst.[/Topinfo]
    Für Inge.

  8. #8
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    Mrs. Passmore, ich sehe mit Freuden Ihrer nächsten Detektivgeschichte aus dem wirklichen Leben entgegen!
    kein zeichen am himmel

  9. #9
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    komme vom digest und bin enttäuscht. Nur die Schwester.
    Dabei hab ich Ingrid Noll mal getroffen. Auf einer Party, bei der ich lange Zeit nur im ersten Zimmer verweilte, bis ein weißhaariger Herr im Cordanzug mich anquatschte. Er sagte, er hätte keine Arbeit. Auf meine Frage, wie er sich dann seinen Cordanzug leisten könne, meinte er, er würde oft um seine Meinung gefragt werden, dafür bekomme er dann Geld. Ich tat beeindruckt und das gefiel ihm. Ich sagte ihm ich hätte auch keine Arbeit, würde von meinem Freund finanziert, der bei Siemens arbeite. Das schien mir in dem Augenblick sehr postfeministisch. Jedenfalls erzählte er mir eine komplizierte geschichte, wieso er auf dieser Party sei und zerrte mich in den zweiten Raum. Und dort stellte er mich einem Verleger und Ingrid Noll vor.
    Ich erzählte ein kleines Detail aus der komplizierten Geschichte, in dem rumsaufen und huren vorkam, was die auch anwesende Freundin des weißhaarigen so sehr irritierte, dass sie bald aufbrauch. Sie nahm alle mit, auch noll und den Verleger.
    Ging alles so schnell, dass ich leider kein Wort mit ihnen wechseln konnte.

  10. #10
    Avatar von Die Wucht
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    Wuchtpunkt und link zur Noll-Schwester.
    "Mir läuft ein metaphysischer Schauer über den Rücken."

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