Eines Tages fragte mich mein Kunstlehrer, ob ich in der Theater-AG mitspielen wolle. Man gab die Dreigroschenoper, und man brauchte noch Bettler. Insgeheim war das durchaus schon mein Wunsch gewesen, aber von selber hätte ich mich nie hingetraut. Die Theater-AG war voller intelligenter, begabter, künstlerisch wertvoller, experimentierfreudiger Lichtgestalten, und obwohl ich sicher war, daß aus mir nie ein Künstler werden würde, hatte ich das teils versnobte, teils feuilletonistische Bedürfnis, in diesen Zirkel einzudringen.
Es gab zwei Regisseure: Zunächst Herrn Gilles, Deutsch- und Ethiklehrer, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Max Goldt hatte, oder vielmehr hatte dieser sie mit jenem: Als ich viel später in einem Kino eine Max-Goldt-Lesung besuchte und dieser gleich zu Anfang bedauerte, daß ein Kino keine Künstlergarderobe hat, rief meine Schwester sofort: "Wie Herr Gilles!" Das war fein beobachtet; nicht nur redete Max Goldt wie Herr Gilles, auch war Herr Gilles äußerlich eine Mischung aus Max Goldt, Kommissar Hunter und Otto Schaffrath. Max Goldt minus Hape Kerkeling gibt etwa Herrn Gilles minus einhalb Kommissar Hunter.
(In der Pause jener Lesung war ich der erste, der zur Toilette entschlüpfte, wo ich prompt den Vortragenden antraf, wie er gerade aus einer Kabine trat und mit Pokerface an mir vorbeihastete. Natürlich habe ich ihn nicht angesprochen, und da er schnell verschwinden mußte, wenn er nicht in einen Pulk von Publikum geraten wollte, obendrein auf dem Klo, konnte ich es ihm auch nicht verdenken, daß er sich für mein freundliches Gesicht nicht weiter interessierte, obwohl ich darein all mein Mitleid gelegt hatte, das ich empfand, weil er das Publikumsklo mitbenutzen mußte. Ich mache mich ritterlicher, als ich bin: Daraufhin habe ich sogleich seine Kabine benutzt, die allerdings nach nichts roch. So weit käme es noch, sich an dem Geruch von Max Goldts Urin berauschen zu wollen! Aber genug davon. Max-Goldt-auf-dem-Klo-Sichtungen gibt es schließlich genügend.)
Neben Herrn Gilles war da Herr Riemann, Kunst- und Sportlehrer, der Bruder der Filmschauspielerin, der ihr auch etwas ähnlich sieht, vor allem die kleopatraeske Spitznase und das Haar, nur etwas schütterer. Wenn Herr Gilles das Väterchen der Theater-AG war, war Herr Riemann das Brüderchen. Mit den Schauspielerinnen diskutierte er, ob seine aufgeknöpften buten Hemden und seine Brustbehaarung machohaft waren oder nicht. Für die Kostümierung stellte er Kartons mit allerbescheuertsten Klamotten, original aus den Siebzigern, zur Verfügung. Da war zum Beispiel eine rosa Strumpfhose, die bei der Anprobe ein Freund von mir anzog, die aber jedem gewöhnlichen Menschen viel zu klein war und wahrlich nichts versteckte. Ein Riesenspaß, aber ein einmaliger: Er weigerte sich, in dieser Hose als Gangster in Mackie Messers Bande aufzutreten, und alle taten, als hätten sie kein Verständnis dafür. Eine andere Hose, militärisch-grau, fand alljährlich Verwendung, zunächst für Beckmann in "Draußen vor der Tür", dann als Bettlerhose, im nächsten Jahr in einem selbsterstellten Stück, das den Anspruch, auf keinen Fall schülertheaterhaft und "plakativ" zu werden, gründlich verfehlte.
Bei Herrn Riemann zu Hause fanden auch allerlei Feten der Theater-AG statt. Auf denen wurde im Kreis gesessen und diskutiert über Philosophie und die Musik von Nirvana, seine große Plattensammlung durchgehört, die Videosammlung erörtert -- dabei ließ er es sich angelegen sein, kurz die kulturhistorischen Verdienste von "Rambo" anzureißen --, es wurde heimlich die Inneneinreichtung bewundert und Scharade gespielt.
Auf einer Theaterprobe, die bei schönem Wetter auf dem Schulhof stattfand, hatte er auch mal seine Schwester mitgebracht. Die saß auf einem Stuhl und betrachtete interessiert, aber höflich die Darbietungen, die an dem Tag besonders schlecht waren, weil natürlich alle an einer gewissen Befangenheit ob der anwesenden Prominenz litten. Niemand außer Herrn Riemann sprach mit ihr. Was hätte man auch sagen sollen? Schließlich waren wir alle schüchterne Paparazzi; höflich paßt hier nicht, denn es wäre wohl doch höflicher gewesen, ihr zumindest Guten Tag zu sagen. Warum er sie mitgebracht hatte, weiß ich auch nicht, es wurde nie über seine Schwester gesprochen.
Jahre später war sie als Attraktion auf einem Schulfest ausgestellt und bot Kinderschminken an. Hasen, Katzen, Fratzen, Indianer. Übrigens war letztes Jahr ein Freund aus Kuba in Deutschland zu Besuch, der den Eindruck gewann, das Kinderschminken sei hier sehr üblich. Ich versuchte ihn zu überreden, daß es durchaus nicht zentraler Bestandteil unseres Kulturkanons sei. Doch seitdem gehe ich mit geöffneten Augen über Frühschoppen, Volksfeste und Tage der offenen Türen und verstehe, daß dieser Eindruck nicht von ungefähr kommt.
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