1918 erlebt, gestern erzählt:
eine verschreckte kinderschar hält sträußchen und singt patriotische liedchen. zwei mädchen + eine reserve schwitzen derweil blut und wasser und verfluchen ihre 'sehr guts' in schönschrift, lesen und religion: sie waren von ihrer lehrerin, einer gestrengen klosterfrau, die die dreiklassengesellschaft noch mit physischen unterschieden legitimierte: bürgersmädchen bekamen ein zweites frühstück, weil sie viel zarter wären als ihre bauersmitschülerinnen, auserwählt worden dem hohen besuch ein artiges gedichtlein aufzutragen. es ging ungefähr so:
wir holen herab dem kaiser gerne
vom himmel über uns alle sterne.
kein kaiser weit und breit, zu besuch war nur sein statthalter, der hetzendorf, was das dorf nicht daran hinderte einer kollektiven hysterie zu verfallen, hatte sich doch der besuch, wohlahnend, dass es der letzte sein würde, ganz kurzfristig eingefunden.
das erste mädchen hatte zurecht geschwitzt: es versagte jämmerlich, die stimme zerbrach, doch blieb die kraft für einen flüchtigen knicks, das zweite - es war ein jammer - das dorf wäre vor scham sofort in den brunnen gesprungen, hätten ihn ihre vorfahren nur ein wenig tiefer angelegt, und meine großmutter, die ungefähr ahnte, was jetzt kommen würde, wäre am liebsten vom tiefen graben am dorfrand verschlungen worden. aber es sollte für sie noch schlimmer kommen.
die dritte auserwählte war allerdings nicht sie selbst sondern ihre um vier jahre ältere schwester lena: ein vierzehnjähriges ding, noch weit davon entfernt eine frau zu sein, eher von der art, dass man sich fragte, ob sie das jemals werden würde.
Kurz, das mädchen bekommt ein paar ellenbogenknüffe in die seite, tritt vor, fuchtelt mit dem zeigefinger vor den männern herum und sagt laut und klar: ist es der da oder ist es der da? - ungeheuerlich - das dorf, das sich eben noch vor den dunklen fluten des brunnens errettet glaubte, erstarrte und meine großmutter verwarf den plan mit dem graben und beschloss einfach ins nahegelegene findelhaus zu übersiedeln.
was den leuten damals nicht ganz klar war: das dorf hatte noch nicht viele promis erlebt, die promis allerdings schon viele dörfer.
der da zeigt auf sich, lena rattert gerne sterne herunter und unterhielt sich dann noch einige zeit mit den herren wie mit alten bekannten, das dorf entkrampfte, schwankte und wogte dafür zwischen neid und stolz über die unverfrorenheit
sie hatten halt humor, die herren, sagt meine oma heute und ist immer noch stolz auf ihre schwester, damals freilich wäre sie am liebsten kopfüber aus dem findelhaus gesprungen jubilierend rufend - ich bin die schwester - um sich am netten plausch zu beteiligen. dem dorf wär dann nur mehr der staub unter seinen füßen geblieben.
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