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Thema: Schur, Täve (stellt sich Fragen)

  1. #1
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    Schur, Täve (stellt sich Fragen)

    Die Stimmung im Zug nach Karl-Marx-Stadt war schlecht. Tags zuvor hatte meine Mutter entdeckt, dass ich es war, der meinen Großeltern ihr kleines Radio gestohlen hatte. Ich stand schon länger im Verdacht, der Täter zu sein, was mir sehr unangenehm war. Doch mit dem Lautstärkeregler zerbarst auch mein Plan, das Radio im Haus meiner Großeltern zu verstecken und sie es finden zu lassen. Mir blieb nichts als zu leugnen, und das ging nicht länger als bis meine Mutter dieses Radio zwischen meinen Kleidern fand. Hätten meine Großeltern mal besser zugehört, all der Ärger und die schreckliche Enttäuschung meiner Mutter wären vermieden worden. Ich hatte mir doch zu meinem 14. Geburtstag so sehr ein Kofferradio gewünscht, und Oma Trudchen sagte: „Einen Koffer, ja?“ – „Neinnein, ein Kofferradio!“ Es wurde genickt und milde gelächelt an diesem Tag, und ich bekam einen dicken braunen Koffer. Wenige Tage später griff ich dann zum Radio, und nun saß ich hier mit schlechtem Gewissen, der Koffer knarzte über mir im Gepäcknetz. Wir waren auf dem Weg zum VIII. Pioniertreffen, es war August 1988.

    Meine Mutter war Redakteurin bei der Kinder- und Jugendzeitschrift „Trommel“, sie musste also arbeiten, und ich konnte mich in der Stadt herum treiben. Das war phantastisch. Karl-Marx-Stadt war bunt geschmückt, junge Menschen aus einiger Herren Länder liefen mit glücklichen Gesichtern herum, überall gab es Musik, Fahnen und Stände, und es gab Stieleis, das ich in Berlin seit Monaten nicht mehr gesehen hatte.
    An diesem Tag spazierte ich nach dem Mittagessen wieder durch die Stadt, es war heiss und laut und voll. Gegenüber einem Café in einer Ladenpassage saß Täve Schur an einem extra für ihn aufgestellten Tisch und gab Autogramme.

    Gutav Adolf („Täve“) Schur war einer der beliebtesten Menschen in der DDR. Vor langer Zeit war er Radsportler gewesen, hatte die Friedensfahrt gewonnen, war mehrmals Weltmeister geworden und so weiter.
    Die DDR liebte erfolgreiche Sportler, wenn diese auch die DDR liebten, und ich glaube, bei Täve Schur war das der Fall. Dass er seit den 60er Jahren in der Volkskammer saß, habe ich erst später erfahren, dass er ein sehr sympathischer, kinderliebender älterer Herr war, sah man hingegen sofort, ausserdem kam das ständig im Fernsehen. Wer ihm damals prophezeit hätte, dass er nur zehn Jahre später Abgeordneter des Deutschen Bundestages für eine ganz neue Partei sein würde, wäre ausgelacht, vielleicht auch eingesperrt worden. Aber das konnte ja niemand vorher sagen, und mich beschäftigte sowieso anderes. Denn ich erkannte meine Chance: Ich würde Täve interviewen, den großen Täve Schur, danach unter Triumphgeheul in der Redaktion einfallen, wo alle die Hände über dem Kopf zusammen schlagen würden, fassungslos über meinen Coup! Würde einen Artikel schreiben, endlich etwas schreiben, und mein Name stünde darunter, und das in der „Trommel“!

    Ich setzte mich auf eine Blumenrabatte, schräg hinter Täve Schur. Weg konnte ich nicht mehr, denn ich wusste nicht, wie lange er hier bleiben würde. Der Andrang war gewaltig, Täve gab Autogramme, geduldig, lächelnd, scherzend. Trotz der Hitze trug er einen Anzug, in meiner Erinnerung einen grauen.
    Mir war nicht langweilig, die ganze Zeit dachte ich über mein Interview nach, bzw. über die Begeisterung, die es auslösen würde. Schon waren die ersten Sätze im Geist geschrieben, sah ich die bewundernden Blicke der erfahrenen Journalisten auf mir ruhen, erstaunt über so viel Talent. Ich war fast schon fertig mit meinem Text, eigentlich fehlten nur noch ein paar O-Töne zum Ausschmücken.
    Nach vier Stunden deutete sich ein Ende der Autogrammstunde an, Täve Schur steckte seinen Stift ein und erhob sich, seine zwei Begleiter begannen, den Tisch abzuräumen. Die den Tisch immer noch umringenden Leute nahmen dies respektvoll hin und gingen ihrer Wege. Nun war ich also dran, und mit jetzt doch wackeligen Knien ging ich auf ihn zu. "Herr Schur, ich komme von der „Trommel“, könnte ich ein Interview mit Ihnen machen?“ Er sah mich gütig an und wies auf einen Tisch in dem Café. Wir setzten uns, er bestellte etwas zu trinken, ich war aufgeregt. Es war etwas unwirklich, da Täve in der DDR so allgegenwärtig war. Als würde ich neben Pan Tau sitzen. „Ich habe leider nichts zu schreiben dabei....“ Er holte seinen Stift heraus und ließ sich Papier geben. Beides lag nun vor mir. Mein Kopf war leer. Wo eben noch munteres Getier über duftende Wiesen flog, war es nun steinern und platt, Marzahn im Gehirn.
    Täve Schur hörte nicht auf zu lächeln. „Soll ich vielleicht erzählen, wie es mir hier gefällt?“ Ich nickte. Es gefalle ihm gut, sagte er, all die jungen Menschen, Pioniere, die sich träfen, Völkerfreundschaft. Ich schrieb es auf und schwieg. Nach einer kurzen Pause fragte er mich, ob ich vielleicht etwas über seine Kinder wissen wolle. Ich stimmte zu, das war eine gute, persönliche Frage. Vier Kinder habe er, so und so hießen sie, sie bereiteten ihm viel Freude und täten dieses und jenes. Eifrig schrieb ich mit, und da nun ein Blatt Papier voll war und mir keine Fragen mehr einfielen, bedankte ich mich schnell und ging. Täve lächelte mir sicher hinterher.

    Unter Triumphgeheul fiel ich in die Redaktion ein, hier, bitte sehr, ein Interview mit Täve Schur, von mir! Ich erzählte begeistert die für mich wesentlichen Einzelheiten der Begegnung und des Gesprächs mit Täve. Die Redaktion freute sich über das überraschende Geschenk, immerhin musste man für jeden Tag des Treffens eine Sonderausgabe produzieren. Vielleicht würde sich noch Platz für meine Geschichte finden. Natürlich bat ich darum, sie schreiben zu dürfen, und man sagte ja.
    Ich durfte mich an einen Robotron-Computer setzen und schrieb mir die Seele aus dem Leib, farbenprächtig, witzig, klug, ein genaues Porträt der Radsportlegende, angefüttert mit Informationen über seine Familie und seine Eindrücke dieses Festes. Alles, alles stimmte, und als der Beitrag tatsächlich veröffentlicht wurde, war ich immer noch sehr stolz, denn wenigstens mein Name wurde nicht geändert.
    Geändert von BleicheLeiche (19.11.2003 um 22:38 Uhr)
    neuer name: toelfelderuel

  2. #2
    Avatar von Benzini
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    Ich hab ja hier nichts zu sagen aber apropos Name. Eine Namensänderung würde ich stärkstens anraten. BleicheLeiche! Was soll denn das heissen? Wir sind doch hier nicht in einem Jack-Arnold-Film. Wie wärs mit eicheL. Oder besser noch: ichL. Kurz und bündig.

  3. #3
    MaybachMember Avatar von Der Admiral
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    Ich finde Ihre Interviewtechnik bewundernswert. Ich denke, daß das hier schon reinpasst; ich entdecke da wenig professionelle Verwicklung und auch keine groupieske Sexabsicht.
    Was hat eigentlich Ihre Mutter dazu gesagt?
    Embedded Senator

  4. #4
    Kosmonaut Member Avatar von Yvonne Caldenberg
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    Danach ist es ein wenig lang und eintönig, eintönig auf die angenehme Art. Davor ist aber der Satz:
    "Doch mit dem Lautstärkeregler zerbarst auch mein Plan, das Radio im Haus meiner Großeltern zu verstecken und sie es finden zu lassen."
    Ich verstehe den satz nicht ganz, aber gerade deshalb gefällt er mir gut.

    Für Täve Schur habe ich als junges Mädchen ziemlich geschwärmt. Und bei der Friedensfahrt habe ich immer die Artikel ausgeschnitten, soviele wie möglich und in ein Heft geklebt, für jedes Jahr eines (es wurden ungefähr acht).

  5. #5

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    Radfahren als Zugucksportart - mir ein Rätsel. Sehr schöne Geschichte aber; jedes Mal, wenn ich sie lese (jetzt zum dritten, aber die zeitlichen Abstände sind so groß, dass ich sie immer wieder komplett vergessen habe bis zur Relektüre und es immer aufs Neue mir unerwartet den Menschen so sympathisch macht, der trotz Hitze und Anzug und vier Stunden Autogrammschreiben noch Kraft und Willen hat für solche Liebenswürdigkeit), staune ich über Täves richtigen Namen und sehe bei Wikipedia nach, ob es den Mann noch gibt.
    Gewuchtet für die zähen Radfahrer Caesar und Elbenohr und die junge Yvonne Caldenberg.
    Geändert von Juri (18.06.2013 um 12:12 Uhr)

  6. #6

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    Wobei der Unterschied von Radfahren als Zugucksportart im Fernsehen und auf der Straße schon eine ganz eigene Sache ist, im Auseinanderfallen auch schwer vergleichbar mit anderen Sportarten. Letzte Woche musste ich kurz warten an einer Straße, wo der Velothon, offenbar ein jährliches Radrennen, querte. Mein lieber Scholli, ist das kurz geil, wenn sie dann kommen, brutal schnell und dafür dann doch SEHR nah am Reifen des anderen, aber das Beste: die Geräusche - der Ketten, der Lager, weil es hochging, mussten an der Stelle alle runterschalten, überall so ein leckeres tightes Knackgeräusch. Im Fernsehen: alles weg, dafür sieht man sie dann aber nicht als Blitz für 5 Sekunden, sondern mit Rennverlauf. Der wiederum - reden wir drüber, wenn die Tour anfängt.

  7. #7
    Seniorita Avatar von elinor
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    Ein ähnlicher großartiger Kick ist es, wenn beim Berlin-Marathon die
    Skater vorbeizischen.

  8. #8
    Seniorita Avatar von elinor
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    --- und natürlich, beim Rennen selbst dabei zu sein.

  9. #9
    Avatar von Alberto Balsam
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    irrealer Kick beim Schwimmen, wenn die Monoflosse vorbeikommt, ich hab 8x in Stockholm bei so einem Dreieinhalbkilometerschwimmen mitgemacht, 15 Grad kaltes Wasser, elend lange Strecke, irgendwann tauchte neben einem ein Kopf auf, tauchte wieder ab, und war im nächsten Moment 20 Meter weiter, die Monoflossen starteten nach uns, und kamen natürlich in eigener Wertung früher an, gespenstische Gesellen, eine eigene Gesellschaft mit eigenen Regeln

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