Am 30. Januar 1984 sollte alles wieder gut sein. Skifreizeit vorbei, wieder zu Hause. Den König des Pucksports kennengelernt.
Am Vorabend werden um 21:30 zum letzten Mal die Lampen gelöscht, Stille.
Dies hier ist eine Skifreizeit für dicke Kinder, ich bin der einzige Untergewichtige. Fehlplanung. Bald ist alles vorbei. Neun Stunden noch bis zur Abfahrt, Coming Home für Kleine. Das Gebälk knarzt, jemand schnarcht, draußen fällt Schnee. Alles riecht seit vier Wochen nach nassen Klamotten, verschwitzten Füßlingen. Vier Wochen lang 'Essen, was auf den Tisch kommt!', keine Gnade für Zwölfjährige, die Berge von Rosenkohl und Haferbrei nicht gewohnt sind. Toilette auf dem Gang, Gemeinschaftsdusche bei 8¡ Raumtemperatur. Jemand benutzt meine Zahnbürste. Care-Paket aus der Heimat angekommen. Auf einer Karte in vertrauter Handschrift eine Durchhalteparole. Und eine Liste von den Dingen, die die letzten fünf Tage versüßen sollten. Gut zu wissen, was drin war, bevor das Paket bei mir ankam. Einfach nur Schlafen.
Dem Erträglichsten der Truppe, einem Exil-Schwaben aus Kassel, obliegt am nächsten Morgen die allseits ungeliebte Aufgabe, den verpickelten Haufen besonders unfein geformter Exemplare größtenteils pubertärer Despotenfratzen aus den Federn zu holen. Sehr elegant, versteht sich. Den, der ihn in rund 28 Tagen nicht in den Schnee geworfen, gezoppt und bestohlen hat, reißt ein netter Klaps aus dem Schlaf. Für die übrigen 39 gibt es eine original Stuttgarter Kopfnuß.
Die Skifreizeit hätte auch 'Organisierte Zweierreihe' heißen können. Alles spielte sich in Zweierreihen ab. Order vom Langlauftrainer. Der ist lautstarker Bewunderer und Fan von Ludwig II. Er bemüht sich sogar stets, einen seiner Phantasie entsprungenen Gang Ludwigs zu imitieren. Das sieht weder grazil, noch herrschaftlich, geschweige denn majestätisch aus. Er ist eine herrische Langlauftucke mit einem majestätischen Schatten. Er erzählt uns, langes Rühren im Tee sei Symptom für Schizophrenie. Vielen Dank. Einem jungen passioniertem Tee- und Kaffeerührer kann so eine sublime Information für Jahre den Geschmack am Rühren ordentlich vergällen. Der Bus, der uns nach Hause bringen soll, ist gelb. Die Zweierreihe bunt und verschnupft. Es ist so kalt, dass sich die Nasenhaare zu verknoten scheinen, sofern man im Alter von Zwölf über eben solchen Wuchs verfügt. Coach Ludwig II trägt selten Handschuhe, klatscht gerne in die Hände, bevor er abermals eine völlig dumme Bemerkung macht, die er zu einer Art Rede aufbläst. 'Mei, Buam, verflixt, mei, jetza!' Es geht ihm eigentlich zu schnell, der Abgang. Unter KnabenÎ fühlt er sich sichtlich wohl.
Der Busfahrer verbietet den Verzehr von Speisen in seinem alten Setra, dafür seien die Pausen da, ja, eine Toilette gibtâs hinten links, noch Fragen, nein, los geht«s.
Rastplatz, irgendwo bei Reutlingen. Eine lange Fahrt liegt hinter uns, Neuschnee erschwert das Vorankommen. Alle Kurierten müssen im Schnitt zweimal austreten, die Toilette ist völlig überlastet, verstunken. Ausweichmanöver haben mustergültiges Vier-Wände-Pinkeln zur Folge, Treffen unmöglich, Schwimmen lernt man in der Bustoilette. Raus, Zweierreihe, nicht drängeln. Ich will telefonieren. Nur eine kurze Ansage, hey, es wird fünf Stunden später, macht euch keine Sorgen. Ein großes grünes Schild weist den Weg zu den Telefonzellen. Einmal um die Fernfahrerfalle herum, Türme von Schnitzelbrötchen. Doch in der Zelle steht schon jemand. Oder unter der Zelle?
Und dieser Mensch ist dabei, die Telefonzelle wegzutragen.
Jedenfalls sieht es so aus. Eine Schulter plus halber Kopf in der Zelle, der restliche Korpus außerhalb. Der Mann muss drei Meter groß sein, mindestens. Er trägt einen Parka in verwaschenem Grün und Jeans. Seine Schuhe sind so groß, dass man für passgenaue Leisten einen Baum hätte fällen müssen. Staunen, eine halbe Ewigkeit.
Ein Fluchen, dann scheint es, als wolle der Hüne die Zelle umwerfen. Natürlich, wer wollte das nicht schon mal, aber diese Aktion hier sieht sehr ernst aus. Er dreht mir den Kopf zu. Ob ich ihm mal helfen könne? Ihm seien zwei Mark in den Schlitz da gefallen, gleich hier, und er komme mit seinen Fingern nicht an sie heran. Klar doch, aufmuntere ich, plötzlich, nach vier Wochen, war ich zu etwas zu gebrauchen. Sekundenschnell ist das Geldstück gefunden. Ich, Dreikäsehoch, helfe ihm, dem Vierhundertkäsehoch. So einfach ist das.
Er fragt mich, was ich auf der Raststätte verloren hätte, ich sage ihm, gar nichts natürlich, ich will nach Hause, ich komme aus einer beschissenen Skifreizeit und will einfach nur nach Hause. Dann meint er, dass das doch generell was Schönes sei, Skifahren und so. Wink des Schicksals. In dem Moment biegt die komplette Toilettenfreizeittruppe um die Ecke und ist auf Kommando genauso peinlich, wie ich mir das in nur diesem Moment gewünscht habe. Scheißlieder singend, scheißgroße Burger fressend, Scheißspäßchen verzapfend. Der Hüne verzieht ein wenig übertrieben die Mundwinkel. Mit denen? Dann fragt er, wo das Ganze denn stattgefunden habe, in welchem Ort. Pfronten. Pfronten, sagt er, ist ja wohl langweilig.
Ende der Konversation. Noch eine gute Reise gewünscht, dann ab. Anruf zu Hause, ja, alles bestens, bald da, Ciao.
Wieder im Bus sitze ich neben Tim, dem Exil-Schwaben. Er deutet auf einen großen Bus in der zweiten Parkreihe. Große rote Lettern verraten, dass der 'EV LANDSHUT' wohl Eigner des Busses, eventuell sogar Insasse sein könnte. Tim sagt, die hätten einen in der Mannschaft, der fast drei Meter groß sein muss. Sehr versöhnlich.
Kühnhackl wurde im selben Jahr Skorerkönig bei den Olympischen Spielen in Sarajevo und gewann den Gustav-Jaenecke-Pokal als Topskorer der Eishockey-Bundesliga.
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