Am liebsten betrinke ich mich Sonntagnachmittags. Wenn es dann noch regnet und die vergangene Nacht in den graukalten Himmel stinkt, dann schlägt meine Stunde. Ich bin Sonntagnachmittagstrinkerin. Samstagnachttrinken, das kann jeder und was hat man davon außer gekünstelter Fröhlichkeit und schnapsiger Unruhe. Die Nacht-Trinker reden wirr um die Wette, schriller und lauter, jeder komischen Bemerkung muss eine noch komischere folgen, bis der ganze Abend irgendwie komisch wird.
Sonntagnachmittagstrinken ist eleganter. Ich trinke alleine. Nur mit mir. Ab vier, ganz langsam. Höre meinen Gedanken zu. Entdecke Ideen deren Halbwertzeit oft weit über den Montag hinaus reichen. Stelle mich meiner Sonntagsdepression, ach was, ich springe hinein, tauche unter, tauche ein, suhle mich in der Dämmerung des Spätnachmittags und irgendwann wird aus suhlen schweben.
Einen Kater bekommt man trotzdem.
1990 besuchte ich übers Wochenende eine Freundin in Berlin. Sie hatte die Nacht schrill und laut verbracht, mich in tausend „super Clubs“ geschleppt. Die Männer rochen muffig wie der bröckelige Mörtel auf den feuchten Club-Kellerwänden. Die Getränke waren lauwarm, der Sound ein schlecht ausgesteuerter Brei aus politisch korrektem US-Hardcore, aber hey, wie Untergrund ist das denn bitte! Als der Morgen endlich graute, lag meine Reiseführerin halbtot, kalkweiß auf der Matratze. Gegen Nachmittag ergriff ich die Chance zur Flucht, log, ich müsse einen bestimmten Zug ereichen. Erleichterung auf beiden Seiten der Wohnungstür, als diese ins Schloss fiel.
Ganz Berlin schien halbtot, kalkweiß auf der Matratze zu liegen, an diesem Sonntagnachmittag. Die Strassen waren leer, es nieselte und ich zog meine Reisetasche Richtung U-Bahn. Irgendwo in einer Seitenstrasse hinter dem Nollendorfplatz lief plötzlich eine Bar an mir vorbei und ich ging hinein. „Is noch zu?“. „Jetzt nicht mehr.“, sagte der Barmann. Ich setzte mich an den Tresen und bestellte Milchkaffe und braunen Tequila ohne alles. Den Tequila trank ich zuerst, warm explodierten Bauch und Kopf.
„Musik?“, fragte der Barmann. „Was Ruhiges, ja, und noch eine Tequila.“, antwortete ich und begann zu tauchen. Nick Cave sang „the good son“, dann „sorrows child“. Ich machte Milchschaumberge. Zucker zerstört Milchschaumberge. Krater entstehen. Dabei macht der Milchschaum, wenn man ganz nah ran geht, Brausepulvergeräusche. Blixa Bargeld griff sich die Stadtzeitschrift vom Vormonat, grüßte den Barmann, setzte sich neben mich an den Tresen, blickte auf mein Getränke-Kombinat und bestellte „Milchkaffee und Grappa.“
Noch einen Tequilla für mich bitte. Wenn man Milchkaffee trinkt, ohne Löffel, nur so, schwupps, ist immer der ganze Milchschaum unten im Tassenboden versammelt. Klebt da. Nur mit Löffel zu entfernen. Ich muss an Verpackungsaufschriften denken und das man eigentlich auf Milchkaffeetassen schreiben müsste: aus tassen,- und milchschaumtechnischen Gründen, verbleibt stets ein Teilrest des Milchschaums am Tassenboden. Ein freundlicher Milchkaffeetassen-Hersteller könnte zusätzlich noch aufdrucken lassen: Nehmen Sie einen Löffel zu hilfe. Nick Cave singt „the weeping song“. Bargeld trinkt seinen zweiten Grappa, den Milchkaffee hat er noch nicht angerührt.
Wenn man Milchkaffee ganz lange stehen lässt, verdichtet sich der Schaum und bekommt eine Haut. Wenn dann noch Kakao drüber gestreut ist, sieht das irgendwann aus wie Milchkaffee-Kotze, denke ich, da wird es Bargeld zu bunt. Nick Cave singt den „ship song“, da brüllt Bargeld den Barmann an: „boaaaahhh, machst du jetzt mal die depressive Scheiße aus!“. Der Barmann rennt zum Cassettendeck, Cave raus, irgendwas rein, schade, nicht auf die Hülle gekuckt, langsamer, kräftiger Takt, dam-dam-dam, dann eine tiefe Stimme: „young woman share your fire with me.“, dam-dam-dam.
„Bist ein ganz witziger, ja?“, fragt Bargeld den Barmann, der liest eifrig Cassettenhüllen, dann spielen die Lemonheads. Ich muss lachen. Bargeld nimmt einen Schluck Milchkaffee, dann muss auch er lachen. Er sieht zu mir rüber. Schön sieht er aus mit seinem Bart aus Milchkaffee-Kotze und wir lachen uns an, wir zwei Sonntagnachmittagstrinker.
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