Mir war schon seit langem eine Frage im Kopf herumgegangen, die Bernhard Lassahns drittes oder viertes Buch "Ab in die Tropen" betraf. "Ab in die Tropen" ist ein rätselhaftes und vielleicht auch nicht vollkommen gelungenes Buch, dessen Hauptfigur ihrem scheiternden Leben im kalten Tübingen entfliehen und dorthin will, wo es warm ist. Aber die tropische Alternative ist von Lassahn so uninteressiert gezeichnet, daß sie überhaupt keine positive Leuchtkraft gewinnt. Es scheint klar, daß die Hauptfigur auch gar nicht in die Tropen gehen wird, und selbst wenn: was würde das ändern, was soll man dort auch anstellen. Deswegen hatte sich bei mir der Eindruck festgesetzt, Lassahn meine vielleicht mit seinem Titel gar nicht die echten Tropen in der Welt sondern die Tropen in der Literatur (kann man auch mit kürzerem o aussprechen), also die rhetorischen Wendungen, und mit "Ab in die Tropen" sei also die Flucht in literarische Wendungen gemeint. Dann wäre die Moral von der Geschichte, daß ein nicht-scheiterndes Leben nicht irgendwo anders auf der Welt zu haben ist, es sei denn, man schreibt sich eins, und das ist dann auch kein Leben, sondern Schreiben.
Heute hört sich das überdreht an, aber die Zeiten waren hochmoralisch, Lassahn war ja auch ein moralischer Autor, dessen kurzzeitige Protektion durch Robert Gernhardt eigentlich auf die falsche Fährte lockt. Wer das nicht glaubt, soll mal seine Kurzgeschichte zu Amsterdam lesen, in "Liebe in den großen Städten". Oder seine Tübinger Frühwerke in "In der Stadt soll es Mädchen geben, die nur Vornamen haben". Er kommt ja aus einer eher sozialkritischen, Biermann-inspirierten Schule, das ist jetzt nicht böse gemeint. Wahrscheinlich hätte er damals über Biermann und sich ein ähnliches Buch schreiben können wie später Nicholson Baker über sich und Updike. Bloß weil Lassahns Publikumserstling "Land mit lila Kühen" (mit F.K. Waechter-Titel - vielleicht war das der Grund für das Mißverständnis) einige hinreißende Slapstick-Szenen enthält, darf man ihn also nicht vom Komik-Lager her verstehen. Am ehesten erinnert er rückblickend an Leute wie den jungen Meinecke, also intellektuellere Autoren nicht ohne Witz und mit starkem Generationenbewußtsein.
Was die rhetorischen Tropen angeht, räume ich ein: das war eine echte Streberidee. Als ich ihn aber auf der Buchmesse spazierengehen sah, mußte ich Lassahn darauf ansprechen. "Kann ich Ihnen mal eine Frage stellen? Den Buchtitel, 'Ab in die Tropen', meinen Sie den wörtlich? Also in dem Sinn, daß man sich nur noch in 'Wendungen' flüchten kann statt in wärmere Gegenden?" Lassahn fixierte mich und sagte: "Und darauf willst Du jetzt eine echt gute Antwort?" Er konnte damals noch nicht, zumindest noch nicht lange in Hamburg gelebt haben, gab aber dem "echt gute" in "echt gute Antwort" so einen hanseatisch-nasalen Klang mit. Ein Freund, der mit mir auf der Buchmesse war, begann gleich, vor Peinlichkeit ständig von einem Bein aufs andere zu wechseln. Ich versuchte dann hektisch, noch etwas zu retten, indem ich erklärte, "Tropen" komme ja aus dem Griechischen, und deswegen könne man es ja auch wörtlich verstehen, also wie gesagt als Wendungen ... Lassahn, etwas milder gestimmt, bemühte sich jetzt sichtlich und sagte, na ja, Wendekreis des Krebses, Wendekreis des Steinbocks, also, klar, die lägen da und da, aber ob er da jetzt direkt dran gedacht hätte? Eher nein. Würde er eher ausschließen. Wir haben dann noch ein bißchen über meine Heimatstadt gesprochen, die er nicht kannte, obwohl er damals viel mit dem Zug reiste, wie übrigens auch sein Icherzähler in "Land mit lila Kühen".
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