Kennen Sie Ihr Gedächtnis genau? Wissen Sie, wie es funktioniert? Glauben Sie, dass Sie das wissen? Möchten Sie das gern glauben? Sind Sie sicher, dass Ihre Erinnerungen sich nicht mit der Zeit immer weiter verändern? Glauben Sie, dass es jemals völlige Klarheit geben kann, bei dem, was man erlebt und gesehen hat? Oder sind wir nur zeitgebundene Wesen, deren Welt sich laufend verändert und dreht, sodass jede feste Annahme oder Ansicht gleichbedeutend mit Willkür ist?
Es gibt wohl keine eindeutige Antwort darauf. Nur, dass man andauernd die Dinge, die man sieht und erlebt, aufschreiben sollte. Andauernd. Unbedingt. Weil sie sich sonst zu sehr verändern und unkenntlich und zu etwas Anderem werden. Und, dass Aufgeschriebenes zu hüten ist, mehr als ein Augapfel unter hundert Galläpfeln.
Aber weshalb nerve ich Sie denn mit diesen Erwägungen an diesem Ort: Weil ich Fangio gesehen habe, Señor Fangio, Juan Manuel Fangio, Rennfahrer aus Argentinien. Er lebte von 1911 bis 1995. Ich habe ihn in Argentinien gesehen, bei einem Autorennen. Halt! Das kann nicht sein. 1973, als ich da auf der Zuschauertribüne saß und die Rennautos unten vorüberwitschten, eingehüllt in ihren rohen und betäubenden Lärm, war Señor Fangio schon über 60. Eben, da fängt es an. Ein Widerspruch im Gedächtnis, widerstreitende Erinnerungen, die sich drehen, während ich daraufgucke. Nu, saß er eben auf der Tribüne. Da kann ich ihn gesehen haben! Weiter oben! Da sitzend und spähend! Und schon glaub ich, dass er da war! Oder? Will ich das nur glauben?
Der langhaarige junge Mann, Edgar hieß er, ein Freund, mit dem ich dort eingezwängt auf der Tribüne in der Hitze hockte, erzählte mir voller Begeisterung von Leuten wie Emerson Fittipaldi, Carlos Reutemann und Señor Fangio. Namen wie Donnerhall. Der Donner schwoll alle paar Minuten wieder so an, dass Edgar aufhören musste, über seine Helden zu reden, dann funkelten nur noch seine Augen durch die Hitze und den Dunst all der schreienden Zuschauer, und unten witschten brüllende Schatten vorbei, Metall, Staubwolken. Und dann, ich glaube fest mich zu erinnern, aber bin nicht sicher!, dann sollte ich mich mal umdrehen und zehn, fünfzehn Reihen nach oben gucken! Denn! Da saß er! Fangio! Sagte Edgar! Denke ich! Mich zu erinnern!
Da saß jemand mit strengen kurzen grauen Haaren, ziemlich alt aber sportlich, schmal, der mit dunklen Augen gebannt auf die Rennstrecke spähte. Ich sah ihn von links unten. Das war kein großer Kerl, er war schmal, sachlich, er hatte was Besonderes, und das war Señor Fangio - in Dunst und Getös.
Aber mein Gedächtnis flackert. Ich kriege es nicht zusammen. Es ist dreißig Jahre her. Als mir vorhin dieses Bild wiederkam, habe ich nach einem Bild von Fangio gegoogelt. Bevor sich die Seite aufbaute, hatte ich ein diffuses Bild vor Augen, von Einem, der so ähnlich aussieht wie Guy Marchand - ein französischer Schauspieler, man sieht ihn oft im TV. Dann waren da Fotos von Señor Fangio, und in alt sah er AUS wie Guy Marchand. Ist das Zufall? Wunschdenken? Wahrheit? Hab ich ihn gesehen?
- Übrigens, Fangio spricht sich Fánn-chi'oo aus, das ch bitte lautlich zwischen dich und ach.
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