Jürgen Kuttner und die DDR
Jürgen Kuttner ist ein hervorragender Trotzkist, Radiomoderator, Journalist. Der einzige Ostler, der sich nach '89 in den kapitalistischen Apparat einklinken und eine Musterkarriere hinlegen konnte, ohne umfallerisch zu wirken. Ich begegnete ihm noch in der DDR, das fiel mir wieder ein, als er vor kurzem bei Biolek und Harald Schmidt saß. Seine Radiosendung habe ich nie gehört, laut Biolek soll sie "Kult" sein. Dort würde stundenlang über Abseitiges philosophiert: ob das Fleisch der Rinder, das unter den schwarzen Fellflecken ist, nachher anders schmeckt als das unter den weißen und so weiter. Jedenfalls behauptete Bio das, daß Kuttner sich solche Themen ausdenkt, aber das bezweifle ich, denn ich habe Kuttner als einen ganz anderen Menschen kennengelernt, als großartigen Kämpfer und Helden der Sittlichkeit. Das mit dem Fell der Kühe ist ja, ehrlich gesagt, eher dumm.
Es war Januar oder Februar '90, daß ich mit meiner Freundin nach Ostberlin fuhr. Sie wollte auf ein internationales Treffen sozialistischer Arbeiterblaskapellen. Meine Freundin kam aus Köln und war Kommunistin (wie alle damals) und spielte Saxophon. Die Kapellen hießen "Bertolt Blech", "Bläservativ", "Blechreiz". Es war verboten, Bands zu gründen ohne solche Namen.
"Irgendwas dabei?" fragte der Grenzer bei der Einreise. "Nein", sagte ich, und wurde gefilzt. Der Grenzer war höchstens 20 Jahre alt und hatte mit untrüglichem Instinkt sofort den Klassenfeind in mir gewittert, schlimmer noch, den unpolitischen Querulanten, der ein Leben voller Glück und Streuselkuchen hinter sich hatte, während er, der Grenzer, nichts gehabt hatte, nur Hunger, Not und selbstgebastelte Gasmasken im Wehrsportunterricht, unter denen er jedesmal fast erstickt war. Und da wollte er es dem Westschwein jetzt mal so richtig besorgen, dem die Schikane reinhauen, mal zeigen, was stärker ist: Gasmaske oder Streuselkuchen. Aber das war ein Fehler. Ich finde nichts begehrenswerter als dieses Schikaniertwerden. Weshalb hätte ich sonst in die DDR einreisen sollen? Streuselkuchen gab es nicht in der DDR, manchmal hatten sie gar nichts zu essen, und auch sonst war alles eine stinkende, graue Wüste, das hätte sich der Ostler eigentlich denken können, daß ich wegen etwas anderem da sein mußte, wegen der Schikane nämlich, aber so weit konnte der immer nicht denken.
Ich wurde also in eine Baracke geführt, der Uniformierte durchsuchte als erstes eine Schachtel mit hundert Stiften, die ich dabeihatte. Er öffnete jeden Filzstift einzeln, um nachzuschauen, ob ich Albert Speers gesammelte Werke in den Kappen verborgen hatte. Hatte ich aber nicht. Dann nahm er aus meinem Kulturbeutel ein Kondom heraus. "Das ist ein Kondom", sagte ich, um die Lage zu entspannen. "Ich weiß", sagte er, und so ging es endlos weiter.
Stunden später kam ich mit meiner Freundin in einem Ostberliner Jugendzentrum an, wo die Musik gemacht werden sollte. Es war alles wahnsinnig verranzt, unter der Decke hingen tropfig lackierte Metallgitter. "60er Jahre", sagte ich anerkennend. "Letztes Jahr gebaut", sagten die Gastgeber und sahen mich mit ihren großen, traurigen Zonenaugen an. Wir befanden uns am modernsten Ort der östlichen Hemisphäre. Abends gab es Blasmusik im Jugendclub, ausschließlich Revolutionslieder. Am nächsten Tag marschierten die meisten Bands durch Ostberlin. Die Kapelle meiner Freundin auch, ich lief bloß unmusikalisch hinterher, im Stechschritt über den Alexanderplatz. Es wurden Parolen gerufen, dieses ganze Blasfestival stand ja irgendwie der Bohley-Bürgerrechtssache nahe. Meine Freundin und alle anderen schrien den Ostlern immer zu, sie sollten ihren eigenen Weg zum Sozialismus finden, Wiedervereinigung NEIN, Kohl NEIN! usw. Die Vopos guckten griesgrämig, das war ja alles nicht angemeldet, aber sie trauten sich im Januar bereits nicht mehr, alle einfach zu erschießen, die Rechtslage war unsicher geworden. Ich war der einzige auf der ganzen Veranstaltung, der nichts gegen eine Wiedervereinigung hatte, warum weiß ich auch nicht mehr. Ich hatte einfach nichts dagegen, ich fand diesen ganzen Staat reizend und wollte gern mit ihm vereinigt werden, also wieder nur Querulantentum, nichts Politisches.
Am zweiten Abend trat eine Band namens Bolschewistische Kurkapelle Schwarz-Rot auf. Die Band hatte einen Conferencier, der zwischen den Stücken eine Art Kabarett machte: Jürgen Kuttner. Ich weiß nicht mehr, wie meine Einstellung zum Kabarett damals war, ich glaube schon eher schlecht, Hans Scheibner hatte ich zuletzt mit 12 zugejubelt. Aber diesen Ostintellektuellen fand ich lustig. Kuttner machte Anspielungen auf die DDR, veralberte Honeckers Cordhütchen, aber am meisten gelacht und geklatscht wurde natürlich, wenn er sowas sagte wie: daß es ja auch im Westen nicht alles so toll wäre, dann schrien die anwesenden Westdeutschen vor Begeisterung und konnten sich nicht mehr kontrollieren, und die Zonis machten nachdenkliche Gesichter. Kuttner war furchtlos, er hatte keine Angst vor den Stehzellen, er sah aus, als hätte er sein halbes Leben in einer verbracht. Klein und grau, gefolterte Ringe um die Augen, er hatte Philosophie studiert, alle Herzen flogen ihm zu. Auch meins. Es bahnte sich sogar eine leicht homoerotische Versessenheit an bei mir, ich erkannte die Führerfigur in ihm, die Verkörperung all dessen, was ich immer sein wollte und nie konnte, Thälmann, Jesus und Che Guevara. Das Gebläse zwischendurch war nur noch störend, ich wollte Kuttners Reden hören, keine Revolutionsmusik. Aber auch während der "Musik" zeigte Che, was er drauf hatte: Er setzte eine Sonnenbrille mit Lauflicht aus roten Leuchtdioden auf, die er am Kudamm gekauft hatte, ein ungeheuer ironisches Bekenntnis zum Kapitalismus. Das hat damals kein anderer so auf den Punkt hingekriegt, sein Begrüßungsgeld mit derartiger Würde zu verprassen. Auch nach dem Auftritt war Kuttner umlagert, versprühte geistreiche Bemerkungen, ich fühlte mich arm und winzig dagegen, ich drang nicht zu ihm durch, ich redete in Gesellschaft kein Wort mehr, so sehr schämte ich mich für meine plötzlich erkannte Unwichtigkeit, meine Freundin mußte mich in den Arm nehmen.
Zwischendurch mußten wir immer mal in den Westen, um den Kulturschock zu genießen. Ich weiß nicht mehr genau, wo das Ganze eigentlich stattfand, ich erinnere mich nur noch an die Chausseestraße. Unser Westgeld versteckten wir immer in den Socken, wenn wir über die Grenze gingen. Einmal saßen wir in dem Jugendclub und pulten gerade wieder das Geld aus den Socken, als hinter uns jemand rief: "Hab ich euch erwischt! Ich bin nämlich von der STASI!" Das war Kuttner, ich lachte wie ein verliebtes Schulmädchen.
Einige Jahre später, als man die DDR und das alles längst wieder vergessen hatte, las ich noch einmal von Kuttner in der Zeitung. Er hatte all seine Ämter niedergelegt, weil sich rausstellte, daß er bei der Stasi gewesen war. Mittlerweile ist Gras über die Sache gewachsen, alles läuft wieder in geordneten Bahnen, sowohl bei ihm als auch bei mir.
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