Puschkin hatte angeblich Geburtstag. Aber nur zweieinhalb Sträuße Blumen lagen ihm an seinem Denkmal zu Füßen, vor seiner Sterbe-Wohnung welkten nur wenige Nelken. Noch vor zwei Jahren war das anders gewesen. Ganze Berge waren damals zu seinen Ehren verrottet. Muttchen und Bohemiens in spe hatten damals in Sankt Petersburg mit tranigen Bewegungen und trüben Blicken ihrer Verzweiflung darüber Ausdruck verliehen, dass der Dichter nun schon seit über 160 Jahren nichts Neues mehr verfasst hat.
Es war also nicht Puschkins Geburtstag. Im Reiseführer stand Unsinn. Aber die Fehlinformation verlieh dem Juni-Abend doch etwas besonderes.
Es war lau. Es wurde immer später. Die Stadt sammelte immer noch Kraft für die Nächte, die bald kommen würden. Nächte ohne Dunkelheit, ohne Schlaf, ohne vernünftige Gedanken.
Unser Weg führte uns über den riesigen Platz vor dem Winterpalais. Man fühlt sich sehr klein dort und so, als ob man sich nur in Zeitlupe bewegen könnte. Je schneller man vorankommen willl, desto langsamer wird man. Vom kleinen Park am anderen Ende wehte der Geruch nach Holzkohle und Schaschlik herüber. Vor einem Säulengebäude versuchten ein paar Militärs mit verrutschten Mützen und glasigem Blick in die Fonds ihrer Wolgas zu steigen. Die aufgemalten Linien, die tagsüber die Besucherschlangen der Eremitage bändigen sollen, wirkten wie überflüssige Bodenzeichnungen eines Korinthenkackerclans. Die tagsüber weißen Statuen auf den Dächern standen verloren und betrübt vor dem Dämmerhimmel herum. Es war kurz vor Mitternacht und irgendwas stimmte nicht.
Um die Ecke ging es Richtung Schlossbrücke. Ein paar Vergessene tranken noch neben den Dixi-Klos. Ein Grillstand-Betreiber mit Papiermütze sortierte schwertähnliche Spieße. Auf der Kreuzung im Hintergrund standen Milizionäre in mausgrau. Auch auf der Brücke standen zwei, drei, vier. Dafür fuhr kein einziges Auto vorbei. Die Straße, der Platz, die Uferpromendade entlang der Newa _ alles war gespenstisch ruhig. Nur ein Bierstand zapfte. Es roch nun nach Algen und Ostsee. Wir schlenderten näher, blieben vorsichtshalber an der Ampel stehen, wurden aber vom dort postierten Milizionär mit seinem Zierschlagstock hinübergewunken. Bei Rot!
Der Milizionär murmelte etwas von »President« und zeigte Richtung Isaaks-Kathedrale.
Als kurz darauf ein blau-rot-blitzender Wurm auf die Uferstraße bog, begannen wir sofort, die Autos zu zählen. Bei 18 hörte ich vorzeitig auf, denn der wirre Tross aus Polizeiwagen, schwarzen Limousinen und weißen Kleinbussen schob sich bereits auf die Brücke. Keine acht Meter entfernt, mittendrin und prunkvoll einsam: eine Karosse mit weißblaurotem Stander. Wir winkten verschüchtert. Die Kleinbusse waren praktisch leer, die Polizeiwagen ebenso. Hinter den dunklen Scheiben der Karosse sei ein weißes Hemd zu erkennen gewesen, sagte mein Begleiter später.
Es war genau Mitternacht. Ab morgen würde der Mann im Hemd diverse Asien- und Kaukasus-Präsidenten treffen; überübermorgen meinen Bundeskanzler.
Die kurzgeschorenen Jung-Gangster, die dreißig Meter weiter mit ihrem Motorboot angelegt hatten, interessierten sich mehr für die Mädchen, die am Ufer herumdrucksten. Der Bierzapfer polierte seine Gläser. Der Gitarrero daneben kümmerte sich um seinen Soundcheck. Niemand hatte Puschkins Geburtstag gefeiert. Nur wir hatten gewunken.
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