Seite 1 von 2 12 LetzteLetzte
Ergebnis 1 bis 12 von 18

Thema: Hrdlicka, Alfred (Silvester in Wien)

  1. #1
    Member Avatar von DerSchorsch
    Registriert seit
    02. 2002
    Beiträge
    316

    Hrdlicka, Alfred (Silvester in Wien)


    Alfred Hrdlicka, der uns in einer Lederjacke und in hellbraunen Wildlederstiefeln mit Fellbesatz entgegenkam, in der Rechten eine zu zwei Dritteln geleerte Flasche Vodka der Marke Moskovskaja schwingend, beide Arme weit abgestreckt vom Körper, hatte uns gesehen. Ganz kurz nur. Er blickte uns danach nicht mehr an, bis zum Ende dieser Geschichte hielt er den Blick auf den Boden gesenkt, etwa zwei Meter vor sich auf den Boden starrte Hrdlicka und schaute niemals rechts oder links, höher oder tiefer.

    Es war die Silvesternacht in Wien, es muß Mitte der 90er gewesen sein, gegen zwölf Uhr waren wir zum Stephansdom gegangen, waren aber nur bis zum Graben gekommen, oder waren aus dem Graben nicht mehr herausgekommen, weil der Stephansplatz schon überfüllt gewesen war. Um zwölf hatten die Glocken geläutet, allen voran die Pummerin, die Wiener Eliteglocke schlechthin, Raketen und Böller waren gezündet worden in all der Enge, es hatte ja nur so geläutet und gezischt und gekracht, und es hatte uns gewundert, wie doch die Wiener so schußfest und brandresistent sind, weil die Raketen, die zu flach gestartet worden waren, gegen die Hauswände knallten und als Glut- und Funkenregen auf die Feiernden und Feuernden herunterkamen. Auf dem Boden waren die Chinaböller explodiert, es hatte nach Schwarzpulver und Schlumberger-Sekt gestunken und gerochen, es war laut und eng gewesen und es hatte zehn Grad unter Null gehabt ach und überhaupt, nachdem das neue Jahr ja nun glücklich angebrochen war, hatten wir den Graben endlich verlassen, hatten, um uns von dem Pulverdampf und dem Ohrengeklingel zu erholen, einen Spaziergang unternommen, der uns in eine schmale Gasse geführt hatte, in der Nähe des Dorotheums muß das gewesen sein, und in eben dieser Gasse kam uns nun Alfred Hrdlicka entgegen, den sie den expressiven Antipoden der Ungegenständlichkeit nennen, in Fellstiefeln und Lederjacke, mit dem Moskovskaja.

    Er zog seine Bahn von Hauswand zu Hauswand, von Randstein zu Randstein, es waren großzügige, fast gleichförmig geschwungene Bögen ohne Hast, eher Riesenslalom als Slalom. Bald tauchte er genau vor uns auf, bald drüben, auf der andern Seite der Gasse, um dann wieder zu uns herüberzuschwingen, nur daß er jetzt zehn Meter näher gekommen war. Bald würde er uns erreicht haben. Hrdlicka ist ein kompakter Mann, berufsbedingt sehr muskulös im Nacken-Schulter-Arm-Bereich, mit einem wuchtigen Schädel, den er aber, wie erwähnt, nicht hob, um nach uns zu sehen, und so schlossen wir, daß er noch über ein anderes Sensorium verfügen muß, um unsere Position zu erfassen, denn das war ja ganz offensichtlich, daß er das tat, berechnete er doch fehlerlos, wann und in welchem Winkel er den nächsten Bogen zu uns herüber ansetzen mußte, beherrschte er doch souverän all die kleinen Verzögerungen und Beschleunigungen, die erforderlichen Bahn- und Lagekorrekturen, wie sie in der Natur der Sache liegen.

    Zuerst gingen wir langsamer, da schwang Hrdlicka sogleich ein wenig weiter aus, dann gingen wir schneller, und er verkürzte den Kurvenradius umgehend und geschickt, es war kein Entkommen, das wurde unabweisbar, Hrdlicka rollte auf uns zu und würde uns beim nächsten Schwung an der Hauswand stellen, uns hineinrammen in diese Wiener Steinhauswand, er haut ja viel in Stein, und in dieser Silvesternacht hatte er es nun einmal auf uns abgesehen, wir sollten nicht viel haben von dem neuen Jahr, das schien uns der Hrdlicka beschlossen zu haben, in wenigen Sekunden würde alles vorbei sein. Da hatte ich eine rettende Idee: Wir mußten uns aufteilen! Nur so hatten wir noch den Hauch einer Chance. Ich ließ mich zurückfallen, um sogleich wieder leicht zu beschleunigen, wobei ich nach rechts und links flüchtige und geringfügige Gesten machte, recht eigentlich bloße Scheinbewegungen, während meine Begleiterin sich genau so, aber eben gerade umgekehrt verhielt und bewegte, so daß Hrdlickas Aufschlagspunkt genau zwischen uns zu liegen kommen würde, so war es jedenfalls gedacht.

    Hrdlicka jedoch, der gerade dabei war, seine maximale Geschwindigkeit zu erreichen, durchschaute unser Manöver sofort und erkannte ohne hochzublicken, daß sein Vorhaben nicht mehr durchführbar war, worauf er unverzüglich reagierte, indem er sein kurveninneres Bein nach außen setzte und mit dem äußeren Bein darüberstieg, mit dem Talski gewissermaßen, was ihn schlagartig um 90 Grad herumdrehte, den Moskovskaja expressiv-fanalhaft hochreißend hielt er die Balance, dann ließ er sich in einen wunderbar leichten, spielerisch tänzelnden, ja wahrhaft lipizzanerhaften Trab fallen, seine makellose Traversale trug ihn zur anderen Straßenseite hinüber, wo er sich neu justierte, das Ende der Gasse einpeilte und sodann in Richtung stadtauswärts davonschoß.

  2. #2
    Moderator Avatar von DonDahlmann
    Registriert seit
    06. 2001
    Beiträge
    6.110
    Ach fein. schön erzählt.
    Endlich mal wieder eine schöne Geschichte hier. Es ist in der Mutter aller Foren doch sehr ruhig geworden in letzter Zeit.

    Erinnert mich an meinen klassischen Ausspruch: "Der Stephansdom ist für die Wiener das, was der Kölner Dom für die Kölner ist."

  3. #3
    Member
    Registriert seit
    01. 2001
    Ort
    Ruprechtshagen an der Leine
    Beiträge
    3.982
    Mitarbeiter der Woche.

    Wollte erstmalig Bläuen, Klede klaute mir die Initation!

  4. #4
    Moderator Avatar von Klede
    Registriert seit
    11. 2001
    Beiträge
    6.654
    Ich habe Dich Deiner Entjungferung beraubt! Paradox.

    Im uebrigen liest sich diese Geschichte, als waere sie vorgetanzt. Geschriebene Choreographie, wunderbar.

  5. #5
    Moderator
    Registriert seit
    01. 2001
    Ort
    Karlsruhe
    Beiträge
    6.104
    Sehr gelacht, Herr Schorsch.
    Hier gibts auch kein Entkommen. Nein ein Entkommen gibt es nicht.
    Danke vielmals.

  6. #6
    Member Avatar von DerSchorsch
    Registriert seit
    02. 2002
    Beiträge
    316
    Oh mein Gott. Sie haben mich gebläut.

    Tief bewegt ab. Von draußen schon ein erster Schluchzer.

  7. #7
    Member Avatar von gwen
    Registriert seit
    10. 2001
    Beiträge
    57
    Au ja, schööööön!


    Ungebildete Frage des Kunstbanausen: was macht der Herr Hrdlicka? Steinbildhauer?

  8. #8
    Member
    Registriert seit
    01. 2001
    Ort
    Ruprechtshagen an der Leine
    Beiträge
    3.982
    Ja. Grässliches Zeug.
    Österreichischer Staatskünstler

  9. #9
    Member Avatar von gwen
    Registriert seit
    10. 2001
    Beiträge
    57
    Dann muss ich mich also nicht einbuddeln lassen, weil ich ihn nicht kenne (kannte)?!

  10. #10
    Member
    Registriert seit
    01. 2001
    Ort
    Ruprechtshagen an der Leine
    Beiträge
    3.982
    Doch, man muss auch das grässliche Zeug kennen, damit das schöne umso mehr strahlt.
    Nein, Blödsinn, legen Sie die Schaufel wieder weg, und riechen Sie an einer Blume

  11. #11
    Large Member Avatar von vir
    Registriert seit
    07. 2001
    Ort
    Pulitz
    Beiträge
    5.387
    Verflixt gut geschriebene Geschichte, völlig einverstanden. Aber was hat es mit dem "bläuen" auf sich?

  12. #12
    Lady Member Avatar von Tigerin
    Registriert seit
    04. 2001
    Beiträge
    1.287
    Im Digest verlinken (auch "blau machen")

Aktive Benutzer

Aktive Benutzer

Aktive Benutzer in diesem Thema: 1 (Registrierte Benutzer: 0, Gäste: 1)

Berechtigungen

  • Neue Themen erstellen: Nein
  • Themen beantworten: Nein
  • Anhänge hochladen: Nein
  • Beiträge bearbeiten: Nein
  •