Ich hatte nie einen richtigen Großvater. Einer starb auf der Flucht in Bayern 1946 an Tuberkulose und der andere zu Hause an einer gräßlichen Krankheit, von der ich immer noch hoffe, dass sie nicht erblich ist. Aber ich hatte zwei überaus liebevolle Großmütter. Eine davon hatte irgendwann wieder geheiratet, und diesen Mann betrachtete ich natürlich als meinen Opa. Er war äusserst streng katholisch und dennoch sehr witzig: Er konnte prima einen Affen nachmachen. Meine Oma war evangelisch und anscheinend weniger streng in dieser Hinsicht. Mein Opa hatte immer eine kleine Perle an einer goldenen Nadel in seinem Krawattenknoten stecken. Überhaupt ging dieser ehemalige Buchhändler immer im Anzug und war stets frisch rasiert und gepflegt. Einmal am Tage spazierte er in die Kirche. Als er starb, bekam er ein Requiem. Ich war damals gerade acht Jahre alt.
Ich liebte meine Großeltern sehr und manchmal ertappe ich mich heute dabei, wie ich träume, mir diese große alte Wohnung vorstelle, die Möbel, die Vorhänge und die mintgrün angetrichene Veranda, die in einen kleinen Garten führte, in dem es nach feuchter Erde und nassen alten Ziegelsteinen roch. Ich versuche mir dann vorzustellen, wie es damals war, wie wir zusammen gefrühstückt haben mit Knüppeln und goldgelbem Honig darauf und Malzkaffee für mich. Ich sehe noch heute die Sonne durch die Gardinen fallen und das alte Röhrenradio gab auf Mittelwelle den Deutschlandfunk wider. Die Verkehrsmeldungen begannen auch damals schon mit diesem Signalton, auf den eine kurze, trötende Melodie folgte: Da Di Da ö Daaaa. Zwar wusste ich nicht, wo die Städte aus den Verkehrsmeldungen lagen, aber diese Melodie war ein Teil meiner Kindheit, in der Wärme und Geborgenheit der großelterlichen Altbauwohnung. Meine Oma kochte dieses typische schlesische Oma-Essen: Wunderbar und voll Liebe zubereitet ö alles mundete, vom Schmorbraten mit Rotkohl bis zum Griesflammerie mit Erdbeeren. Dennoch sah meine Oma immer wieder in einem uralten Kochbuch nach, in dem schon ihre Mutter klitzekleine Bemerkungen mit Bleistift geschrieben hatte.
Meine Oma wäre, ob der Begegnung, um die es eigentlich hier gehen soll, wohl ungläubig und voller Stolz gewesen. Und irgendwie erschien mir das Zusammentreffen mit einem der wohl berühmtesten Namen und gleichzeitig unbekanntesten Menschen selbst irgendwie märchenhaft. Ich nehme sogar an, dass einige Mitbürger den Namen für pure Phantasie halten, für eine Marketingfigur, wie Clementine oder die Fixies-Familie.
Meine Oma war schon zehn Jahre tot. Es war anlässlich eines Betriebsjubiläums meines nunmehr ehemaligen Schwiegervaters (siehe Alice). Der war nämlich Kapitän, und zwar ziemlich lange. Er verbrachte über vierzig Jahre bei ein und derselben Reederei und war zu seinen aktiven Zeiten der dienstälteste Kapitän in Deutschland. Als er nun also seine vierzig Jahre rum hatte, fand ihm zu Ehren ein Empfang auf seinem Schiff im Hambuger Hafen statt. Es waren alle geladen, vom Betriebsrat bis zum Vorstand und eben auch der Besitzer des ganzen Ladens. Und ich als Schwiegersohn nahm mit meiner ehemaligen Frau gleichfalls teil und eigentlich war das alles ziemlich belanglos, wäre ER da nicht erschienen. Er war extra aus Bielefeld von seinem Chauffeur hergebracht worden und gab meinem Schwiegervater die Ehre. Seine Erscheinung war würdevoll, strahlte die Kultur eines Milliardärs aus und sein schlohweisses Haupt erinnerte mich an meinen Stief-Großvater. Meine kleine Nichte nahm ihn sofort in Beschlag, turnte auf ihm herum und zupfte ihm ein Tuch und einen Füllhalter aus der Jackettasche. Das alles fand er ziemlich lustig, schliesslich war er eben ein Opa und meine Nichte hatte ja keine Ahnung, dass sie da einem Lebensmittelkonzern-Magnaten und Reedereibesitzer ziemlich die Show stahl. Ihm war es egal ö mit weit über achtzig Jahren bringt einen nichts mehr aus der Fassung, erst recht kein blondes, vierjähriges, süsses Mädchen, dass durchaus seine Urenkelin hätte sein können.
Der offizielle Teil ging irgendwann zu Ende und man schlenderte hinunter zur Offiziersmesse. Dort gab es ein seemännisch einfaches Mahl: Erbsensuppe. Es hiess, er hätte es sich gewünscht, aber meine Mutter macht auch ständig Sauerbraten und behauptet permanent, das wäre mein Lieblingsessen. Ich hasse Sauerbraten, aber das sind die üblichen und lebenslangen Missverständnisse in einem Familienleben, die aufzuklären mehr kaputt machen würde, als ein ersparter Sauerbraten einbringen könnte.
Ich sass dann an einem notdürftig dekorierten Resopaltisch neben dem Konzernchef. Er fragte mich, was ich so mache (nein, ich erzählte ihm nicht die lange Geschichte von Walter Giller und meinen Schauspielversuchen) und wir löffelten brav unsere Erbsensuppe. Für den Nachtisch hatte der Smutje eine besonders lustige Idee. Er kredenzte einen schlichten und einfachen rosafarbenen Erdbeerpudding - in Glasschälchen gegossen. Es war deswegen unfreiwillig komisch, weil der Fabrikbesitzer gerne mit eben diesem Produkt in Verbindung gebracht wird. Natürlich gab es auch Radeberger Bier, das gehört ihm nämlich auch. Aber irgendwie finde ich das daneben: Man stelle sich ein Konzernessen mit dem McDonalds Chef vor und es gibt nur BigMacs und Chicken Nuggets. Ich glaube auch, dass ihm der Pudding überhaupt nicht geschmeckt hat. Er roch nämlich so furchtbar fruchtig, dass man davon schon genug hatte (Irgendwie erinnerte mich das Ganze an die Szene aus dem wunderbaren desFunes-Film ³Brust oder Keuleã, als der Fast-Food-Konzernchef am Ende seinen eigenen Fraß essen musste).
Das war es eigentlich schon. Irgendwann war auch das Essen zu Ende, der Boss stieg in seine Limousine und liess sich nach Hause kutschieren, und wir verliessen ebenfalls das Schiff. Aber ich muss zugeben, dass ich lange, eigentlich bis heute, berührt bin von der Tatsache, dass ich neben IHM sitzen durfte und Erbsensuppe gegessen habe. Wer kann das schon von sich behaupten? Und irgendwie macht es mich traurig, dass meine Oma es nicht mehr erfahren hat. Sie hat auch den Fall der Mauer nicht mehr erlebt. Obwohl sie ja als Rentnerin in den Westen fahren durfte, hätte ich ihr die Freude gegönnt, die sie für uns empfunden hätte, für uns Enkelkinder. Wahrscheinlich hätte sie mir, wenn ich ihr von der Begegnung erzählt hätte, auch das alte Kochbuch gezeigt auf dem SEIN Name stand: ³Dr. Oetkerã.
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