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Thema: Canetti, Elias (Ein Nobelpreisträger sitzt auf meinem Bett)

  1. #1
    Avatar von Aporie
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    Ein Nobelpreisträger sitzt auf meinem Bett

    Kurz vor dreißig erlebte ich die Trennung von einer Frau zum ersten Mal als Riss in meinem Leben. Wir hatten fast zehn Jahre Tisch und Bett geteilt. Ich nahm von meinen Teilen nur die Bücher mit.

    Ein Freund bot mir an, in seinem Arbeitszimmer zu übernachten, bis ich eine feste Bleibe gefunden hätte. Genau genommen wies er mir darin eine Ecke zu, die jedoch nur bis mittags mir gehörte. Denn von mittags bis abends um sechs schrieb er darin an einem Roman. Es erschien mir unschicklich, ein zweischläfriges Bett zu kaufen, nicht nur meines Freundes wegen. Im übrigen war die Ecke gerade so groß, dass man darin eine Couch aufstellen konnte, die auf drei Seiten von einem Büchergestell umgeben war. Ein Fall für Ikea.

    Als ich meine minimalistische Einrichtung endlich zusammengeschraubt und die Bücher alphabetisch eingeordnet hatte, lag ich kurz Probe und ließ meinen Blick über die vertrauten Buchrücken wandern. Wie schön war dieses Gefühl, jedes Mal, wenn ich mich nun hinlegen würde, umstellt zu sein von großen Gedanken. Allerdings wusste ich nicht wohin mit dem Bettzeug.

    Eines Abends kam ich kurz nach sechs nach Hause. Als ich die Tür aufstieß, sah ich einen kleinen knorrigen Mann mit einem kräftigen an Nietzsche erinnernden Schnurrbart auf meiner Couch sitzen. Sein Haar war weiß, von einzelnen schwarzen Strähnen durchzogen, und seine Haut hatte einen graugelblichen Ton, wie altes Zeitungspapier. Eine Ähnlichkeit mit dem Drakulaforscher Professor Ambrossinus in Polanskis Tanz der Vampire war unverkennbar. Neben ihm, aber in gemessenem Abstand, saß eine junge Frau mit kurzgeschnittenen blondem Haar. Da sie etwa dreißig Jahre jünger als der Mann war, ordnete ich sie ihm nicht automatisch zu. Eine fremde Frau, die auf deinem Bett sitzt, wenn du nach Hause kommst, ist ohnehin schwer zuzuordnen.

    Mein Freund saß auf seinem Arbeitsstuhl, den er in die Nähe der Couch gerückt hatte. Er stellte mich seinen auf meinem Bett sitzenden Gästen vor. Ich war froh, dass ich die Leintücher abgezogen hatte und die Couch tatsächlich wie eine Couch aussah.

    An den Namen der Frau erinnere ich mich nur noch schwach. Ich glaube, sie war Germanistikstudentin und hieß Buschor. Jedenfalls hieß sie kurze Zeit darauf Frau Canetti. Ich reichte ihr die Hand und nachher reichte ich sie Canetti.

    Ich muss einfügen, dass Elias Canetti weder vor noch nach dieser einzigen Begegnung zu den Autoren gehörte, die ich besonders gerne lese, wahrscheinlich las ich nicht mehr als zwanzig Seiten aus "Masse und Macht" und vielleicht zehn aus "Die Blendung". Ich nehme an - stehend in einer Buchhandlung, was mich der Mühe enthebt, hier schlichte Urteile über Canettis Werk zu verbreiten, auch wenn es mich natürlich traurig stimmt, ausgerechnet einem Nobelpreisträger die Hand gedrückt zu haben, dessen Bücher ich nicht besonders mag. Eine überraschende Nähe anderer Art sollte erst später entstehen, als ich zufällig erfuhr, dass Canetti an der Klosbachstrasse in Zürich wohnte, und das seltsamerweise in der gleichen Wohnung, in der ich einst mit zwei Kommunarden gehaust hatte. Er lag also in der Badewanne, in der wir alle Wochen einmal das Geschirr gewaschen hatten.

    Bei unserer Begrüßung war Canetti übrigens höflich und alert von meiner Couch aufgesprungen, obwohl ich diese übertriebene Freundlichkeit mit dem Ansatz einer beschwichtigenden Handbewegung zu verhüten suchte. Andererseits saß er auf meiner Couch, auf die ich mich nun - ebenfalls aus Höflichkeit - nicht setzen konnte. Ich blickte um mich. Auf der einzigen nun noch verbleibenden Sitzgelegenheit war mein Bettzeug aufgetürmt. Ich schob den Stuhl samt seiner flauschigen Last vorsichtig heran und versank in meinem Oberbett. Canetti sah mir dabei zu und zeigte freundlich lächelnd eine Reihe kleiner grauer Zähne, die alle seine eigenen waren. Da er nichts sagte, sagte ich auch nichts. Wenn ich so plötzlich und unvorbereitet an fremde Leute gerate, wird mir die richtige Verwaltung meines eigenen Vokabulars zu einer Last.

    Die beiden Schriftsteller sprachen von London, seinen Bibliotheken, seinen Museen, seinen Parks, seinen Grüngürteln. Sie hatten beide in dieser Stadt eine Zeitlang gewohnt und sich dort kennen gelernt. Als Weekend-Ausflügler kann man da nichts beisteuern. Ich überlegte, ob ich mit Frau Buschor sozusagen übers Kreuz ein harmloses Gespräch, zum Beispiel über Sommersprossen, anfangen sollte. Aber die war vollauf damit beschäftigt, Canettis bei jedem Wort hüpfenden Schnurrbart zu beobachten. Je länger ich sie vergeblich ansah, desto mehr Sommersprossen bekam sie. Ich schreibe diesen Abschnitt nur, um zu verdeutlichen, dass man sich auch mit einem zukünftigen Nobelpreisträger der Literatur langweilen kann.

    Bloß um nicht plötzlich in meinem Bettzeug einzuschlafen, erwähnte ich in einer Gesprächspause kurz das Londoner Wachsfigurenkabinett von Madame Tussaud. Da wäre er noch nie gewesen, sagte Canetti sofort, und er würde wohl auch nie hingehen. Es sei denn, gickerte er mit vibrierendem Schnauzer, man gieße ihn nach seinem Tod in Wachs. Da war ich dann doch baff. Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Canetti sich über seinen eigenen Tod lustig machen könnte.


    "Ein Recht auf Glanz, Reichtum, Elend und Verzweiflung aller Erfahrung habe ich mir durch die Empörung gegen den Tod erworben. In diesem endlosen Aufstand habe ich gelebt." (Elias Canetti)

    Da war noch ein Wort zu viel. Das habe ich jetzt halt herausgenommen.
    Geändert von Aporie (25.10.2002 um 23:44 Uhr)

  2. #2
    Avatar von Klingeltonk
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    Das ist nicht schön, das ist perfekt.

    Da bekommt man Sommersprossen, je weiter man liest.

    6.0 in der A-Note und in der B-Note.

  3. #3
    Member Avatar von Mr. Knister
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    Aporie, danke für diese Geschichte. Das muss ein schöner Tag werden, wenn er denn mit solcher Lektüre beginnt.

    "Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet Canetti sich über seinen eigenen Tod lustig machen könnte" - angeblich konnte er das wirklich, wurde mir mal erzählt. Sicher hätte er auch einen passenden Kommentar dazu abgegeben, wenn er denn gewusst hätte, hernach in Fluntern neben Joyce begraben zu werden. Waren Sie mal da? Haben Sie nebenan die Löwen brüllen hören?

    Dank vielmal, Ihr Knister

  4. #4
    [registriert] Avatar von Toni Bock
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    Sehr schön!

    "Wenn ich so plötzlich und unvorbereitet an fremde Leute gerate, wird mir die richtige Verwaltung meines eigenen Vokabulars zu einer Last."

    Dieser Satz beschreibt einen Zustand, den ich nur zu gut kenne und nicht schätze, so perfekt, dass ich ihn in mein Gehirn meißeln werde.

  5. #5
    Avatar von Goodwill
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    Er lag also in der Badewanne, in der wir alle Wochen einmal das Geschirr gewaschen hatten.
    Angeblich war Canetti das, was man abfällig »Badenutte« nennt und bewundernd »Vorbild an Reinlichkeit«. Gerüchte besagen, er habe eine aufblasbare Schreibmaschine besessen und statt eines Hundes hätte er nur eine pflegeleichte gelbe Badeente gehalten. In seinen Büchern wimmeln ganze Schwärme von Wasser-Metaphern. Der charakteristische Schnurrbart war Canettis haargewordener Protest, gegen das Robbenschlachten. Sein letztes großes Lebensziel nach dem Nobelpreis blieb ihm verwehrt: Einmal einen Duschvorhang dekorativ zutexten.

  6. #6
    Member Avatar von christoph
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    Meine Canetti-Exposition beschränkt sich auf "Die geraubte Zunge". Langweilig. Angefangen, weil alle sagten, er wäre der Großen einer - und dann nie begriffen, warum. Er hätte so viel zu erzählen aus seinem vollen Leben, und tuts dann auf so eine langweilige Art. Kann man so Nobelpreisträger werden?

    Schön erzählt, Aporie, aber - ich weiß auch nicht, ich weiß auch nicht, in letzter Zeit ist mir so nach Mäkeln: Da fehlt mir irgendwas Zündendes. Viele schöne Beobachtungen, dazu die bereits hervorgehobenen Aporiesmen (sic), aber... mit fehlt die Schärfe. Der Blitzstrahl. Die eine Sentenz. Verstehen Sie?

  7. #7
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    an Aporie: Ich wollte ich könnte schreiben wie Sie. Das ist eine schöne Geschichte. Ich kenne den Mann nicht aber Sie haben ihn gut beschrieben. Ich hoffe Sie haben wieder ein eigenes Schlafzimmer!

    Jessica

  8. #8
    Kolkrabe Avatar von Doctor Subtilis
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    Sehr schön erzählt, Aporie!
    Hm, also ich mag Canetti schon. Deshalb muß ich auch darauf bestehen, daß der erste Teil der Memoiren "Die gerettete Zunge" heißt.

  9. #9
    Member Avatar von boschofon
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    um auch ein wenig am sonst absolut verdienten anekdotenglanz zu schubbern: der wirre professor aus dem polanski-tanz heißt meines wissens genauer "abronsius". dies nur der akribie halber. ansonsten: hut ab, feiner federfluss.
    derzeit unbenutzt

  10. #10
    Member Avatar von christoph
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    Ein peinlicher Fauxpas, der mir eben im Regen auf dem Fahrrad einfiel. Gerettet wurde sie natürlich, die Zunge, ich Trottel. Vielleicht wär mir dieser Lapsus nich unterlaufen, wenn mir das Buch besser gefallen hätte (vielleicht aber auch doch).

    @ Jessica: Auch ich würde mir wünschen, Sie könnten so schreiben wie Aporie.

  11. #11
    Avatar von Aporie
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    Dank an alle, denen die Geschichte gefallen hat, auch an Jessica (hinter der ich Lottmann vermute) für den ironischen Kommentar und an christoph für die kritische Einschränkung, die auch mich selbst beim Schreiben als leiser Zweifel begleitete.

  12. #12
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    .

    hierzustadt findet jährlich ein canetti-symposium von überbordender bedeutung statt.

    danke für den satz: "Ich muss einfügen, dass Elias Canetti weder vor noch nach dieser einzigen Begegnung zu den Autoren gehörte, die ich besonders gerne lese, [...]".

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