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Thema: Kohl, Helmut (auf Privatbesuch)

  1. #1
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    Helmut Kohl auf Privatbesuch

    Ein Dienstagmorgen Anfang März 1989. Ein kalter, sonniger Vorfrühlingsmorgen, der nach langen düsteren Winterwochen allgemeine Euphorie auslöst, wegen meiner Wetterfühligkeit aber wieder mal zu heftigen Kopfschmerzen führt. Das Dröhnen hinter den Augen wird lauter und schließlich verlasse ich meinen Schreibtisch, werfe meine Jacke über und renne raus. Zwar weiß ich aus leidvoller Erfahrung, daß wetterbedingte Kopfschmerzen in frischer Luft meistens noch schlimmer werden, aber ich gebe die Hoffnung auf die wohltuende Wirkung eines Spaziergangs nicht auf. Das grelle Licht knallt auf meine Netzhaut und meine Hirnzellen protestieren empört. Ich schaue nach unten und konzentriere mich auf meine Füße. Plötzlich, an der Ecke Alsterpavillon/Neuer Jungfernstieg, wird es dunkel um mich herum. Ich hebe den Blick und sehe unmittelbar vor mir eine ungeheure Masse Mensch, umgeben von mehreren weiteren hohen, dunkelgekleideten Gestalten. Ein breites, freundliches Gesicht grinst mich an, und ein paar kräftige Arme schieben mich sanft durch die Gruppe. Irgendwie stolpere ich weiter. Nach ein paar hundert Metern kommen mir langsam Fragen: ... sah der nicht aus wie der Bundeskanzler ... kann aber doch gar nicht ... läuft doch nicht einfach so durch Hamburg ... ist ja auch egal ... weiter ...
    Mittwochmorgen, Wartezimmer meines Arztes. Es regnet wieder, und das gestrige Hämmern und Dröhnen in meinem Kopf ist mittlerweile in ein leises Klopfen übergegangen. Seit ich wieder denken kann, wächst meine Besorgnis. An Kopfschmerzen bin ich mittlerweile gewöhnt, aber Halluzinationen sind doch noch was anderes. Auch im Beipackzettel meiner Tabletten wird nicht vor dem plötzlichen Auftauchen von Regierungschefs gewarnt. Ich greife nach dem Hamburger Abendblatt vor mir auf dem Tischchen, Lokalteil: Bundeskanzler Kohl hielt sich gestern zu einem Privatbesuch im Hamburg auf und unternahm mit seinen Begleitern bei strahlendem Sonnenschein einen Spaziergang durch die Innenstadt." - Ich stehe auf und sage meinen Termin ab.
    Mittwochmorgen, Bonn, Kanzleramt. Der Bundeskanzler zu seiner langjährigen Assistentin: "Juliane, das Desinteresse junger Leute an der Politik wird immer unglaublicher. In Hamburg ist mir gestern eine Frau vor die Füße gelaufen und hat mich nicht mal erkannt. Holen Sie mir mal den Gorbi an die Leitung. Wir müssen mal 'ne richtig große Sache machen, damit diese Trantüten aufwachen!"
    Ja, okay, den letzten Teil hab ich nicht miterlebt, aber für den Anfang leg ich meine Hand ins Feuer. Der Zusammenhang ist mir dann auch erst viel später klar geworden. Die Historiker werden sich natürlich auch darüber wieder streiten, aber es erklärt doch vieles, was man bisher nie so ganz begriffen hat, oder? - Migräneanfälle habe ich seitdem übrigens nie wieder gehabt.

  2. #2
    Member Avatar von Mr. Knister
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    Re: Helmut Kohl auf Privatbesuch

    Liebe legistra, eine sehr schöne Geschichte - ich mag sie.

    Es ist jetzt nur die Frage, ob Sie sehr dafür gescholten werden, maßgeblich für den Mauerfall & all diese Dinge verantwortlich zu sein. Ohne Migräne und ein Stückchen weiter am Rand geblieben - die Welt sähe ganz anders aus. Vielleicht blühender, schöner. Vielleicht auch nicht, was weiß ich.

    Eine sehr schöne Geschichte. Ehrlich.

  3. #3
    Avatar von Klingeltonk
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    Endlich haben wir sie, die Schuldige.

  4. #4
    Member Avatar von Mr. Knister
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    Originally posted by Klingeltonkomponist
    Endlich haben wir sie, die Schuldige.
    Na, was sag ich? Geht schon los.

  5. #5
    Moderator Avatar von DonDahlmann
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    Das ist eine wirklich fein wie Du aus einer 2 Sekunden Begegnung eine schöne Geschichte machst.

  6. #6
    Avatar von Klingeltonk
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    Sie hat uns den 17. Juni gestohlen und dafür haben wir nur den 3. Oktober gekriegt! Das ist genauso, als würde man einen Opel Kapitän in Zahlung geben und dafür einen Astra kriegen!

  7. #7
    Member Avatar von Mr. Knister
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    Originally posted by Klingeltonkomponist
    Sie hat uns den 17. Juni gestohlen...
    Aber, was heißt schon gestohlen: nie war er wirklich unser.

    Ich feiere ohnehin am 16. Juni. Da weiß man, was man hat.

  8. #8
    Avatar von Klingeltonk
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    Stimmt auch wieder.
    Und immerhin ist die Geschichte schön.

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