Promigeschichte als second hand ...
Mein Freund Tom, der eigentlich ganz anders heisst, aber lieber inkognito bleiben möchte, mein einziger wahrer Freund, hat eine unbewusste Vorliebe für historische Dinge und Orte.
Er ist Musiker, in allererster Linie jedoch Inhaber eines kleinen Tonstudios, da er besser delegieren denn musizieren kann. Weil er eines der ehemaligen Ateliers von Joseph Beuys nicht direkt beziehen konnte - diese Ateliers gibt es hier wie Sand am Meer - hat er sich dem, meiner Meinung nach, schönsten gegenüber angesiedelt. Es ist ein kleiner Turm, an einem Hang gelegen, mit einer phänomenalen Aussicht - sofern am Niederrhein so etwas wie eine Aussicht überhaupt möglich ist. Einziehen wollte Tom damals eigentlich nur, weil die Miete so günstig war. ?Der Beuys ist schon so lange unter der Erde, und wir haben nur eines gemeinsam: Er brauchte Platz, ich brauche Platz?. Ein Architekt war jedoch schneller bei den Vertragsverhandlungen, und so bekam dieser letztendlich auch den Turm. Architekten gibt es hier übrigens auch wie Sand am Meer.
Ich glaube nicht, dass Tom diesen Ort gewählt hat, weil er sich spirituell berühren lassen wollte. Eigentlich ist es hier ohnehin fast unmöglich, den Hinterlassenschaften Beus' aus dem Wege zu gehen. Mich spricht dieser Ort des Schaffens nicht sonderlich an, er ist zwar besinnlich-beschaulich, aber ausser einer alten Straße, dem Turmatelier direkt gegenüber und ein paar Bäumen nicht weiter aufregend.
Aber in Toms Studio steht ein Mischpult ...
Dieses Mischpult ist ein altes Soundcraft TS24 (modifiziert für Surroundproduktionen), 72 Kanäle (36 Inlinekanäle), 2 Auxreturnmodule (8 Monofader), umfangreiches Mastermodul mit 2 Stereo-Kopfhörerwegen, TT-Patchbay und Surroundumschaltmatrix, MasterMix Fader- und Muteautomation für jeden Kanal integriert.
Hat Tom mir erzählt.
Für mich ist es einfach ein schwerer, schwarzer, alter Kasten mit einer Menge Knöpfen und Reglern, die ich vielleicht in 2 Leben verstehen und bedienen könnte. Dieses Mischpult stand einst in einem Studio in Dublin, in dem eine damals noch nicht so bekannte Musikband aus Irland die meisten ihrer Platten in den 80ern produziert und gemixt haben. Viele werden mit Irland und Band und 80ern sicherlich U2 assoziieren - und liegen damit richtig. Auf diesem Mischpult wurden Alben wie ?Boy?, ?War? oder auch das legendäre ?Joshua-Tree? Album eingespielt. Ich persönlich stehe nicht unbedingt auf U2, bin mir deren Popularität aber natürlich bewusst. Es ist fast wie mit den Ateliers und den Architekten hier vor Ort - teilweise konnte und kann man Bono & Co. nicht aus dem Wege gehen.
Als ich Tom das erste Mal besuchte, bekam er grade ein Fax aus London. Es stammte von Robert. Robert ist das einzige lebende Wesen, das dieses Pult in und auswendig kennt, er hat dieses Pult praktisch geboren. Robert kennt die Marotten und Wehwehchen des Pultes, und bei technischen Problemen oder Reparaturen kann er - mit leicht zeitverzögertem - Rat zur Seite stehen. Tom las mir dieses Fax vor und lachte anschließend laut: ?Diese Anfrage habe ich ihm vor 3 Monaten geschickt?, sagte er. ?Er wird immer schneller.? Robert ist ständig unterwegs oder betrunken. Oder unterwegs und betrunken. Sagt Tom.
Immer wenn ich Tom im Studio besuche und mich diesem Mischpult nähere, durchflutet mich ein seltsames, vertrautes Gefühl. Seltsam im Wortsinne, ich sitze einem selten gewordenen Bekannten aus gemeinsam erlebten Zeiten gegenüber. Gemischte Gefühle suchen sich die richtigen Stellen und wärmen meinem Bauch . Jahre, die ich so nie wieder empfinden und leben kann, werden zu Bildern und Farben in meinem Kopf. Ich muß es zwischendurch immer mal wieder anfassen, was Tom regelmässig argwöhnisch beobachtet. Und jedes Mal, wenn ich einen Knopf berühre, einen Schalter umlege (was Tom auf den Tod nicht leiden kann), erwische ich mich dabei wie ich mir vorstelle, dass Bono und The Edge vor diesem Mischpult sassen und über die eingespielten Stücke diskutierten, über manche Passagen vielleicht lachten und feixten. Ein kleiner Strauss aus Bildern, der sich mit eigenen, vergangenen Erlebnissen und Eindrücken vermischt, entsteht - und geht wieder leise.
So erzählt mir dieses Pult jedes Mal eine Geschichte, und ich möchte noch viele solcher Augenblicke erleben.
Lesezeichen