Januar 1889, Turin. Ich erinnere mich dennoch sehr genau. Gerade hatte mir Lorenzo Luciano einen knallenden Peitschehieb versetzt, gefolgt von einem zweiten, einem dritten, und so fort. Ich stand immer noch und wollte mich nicht in Bewegung setzen. Es zwiebelte wahnsinnig und ich konnte mich kaum mehr bewegen, obgleich es klug gewesen wäre, loszutraben, da weniger schmerzvoll. Lorenzo wollte nach Hause. Außerdem war er voll des Grappas, die Saufnase. Die Peitschenhiebe hagelten nur noch so auf mich ein, als plötzlich von der anderen Straßenseite ein völlig verwahrloster Typ auf mich zurannte, um ein Haar von einer Kutsche überrollt worden wäre, um mir sodann, knapp davongekommen, um den Hals zu fallen und in ein unsägliches Wehgeschrei auszubrechen.
Heulend warf er sich wie ein Stabhochspringer auf meinen Rücken, ergriff Lorenzos Peitsche und versuchte mit aller Gewalt, ihn vom Bock zu ziehen. Lorenzo fluchte auf Italienisch; ich hab«s leider nicht verstanden, denn welcher Gaul kann schon Italienisch?
Der Typ aber heulte schießlich nur noch wie ein Schoßhund, fiel ab, rappelte sich auf und hängte sich erneut wie eine engadiner Kuhglocke um meinen Hals, indes die Tränen in seinen Walrossbart sickerten, um sich mit meinem Schweiß zu vermengen, was seltsam kitzelte.
Trotz der Unmengen Grappas begriff Lorenzo, dass es hier nicht mit rechten Dingen zuging, und er stieg ab von seinem hohen Ross und stand dümmlich ratlos neben uns.
Ich habe inzwischen viel Zeit gehabt, um über dieses Begebnis nachzudenken. Dieser seltsame Herr, der ob einer solch tierischen Bagatelle ein derartiges Mitleid empfand, ist mir zu einem wahren Helden geworden. In Anbetracht meiner recht soliden Menschenkenntnis bin ich zu sagen versucht:
er war ein Übermensch.
(Beitrag wurde von Hundertsasa am 22.11.2001 um 23:11 Uhr bearbeitet.)
Lesezeichen