"Die Absicht (ist), nur die bezeichnendsten Episoden meines Lebens zu berichten, und zwar des Lebens, wie es sich mir ausserhalb seines natürlichen Ablaufs zu verstehen gibt, und insofern, als es den Zufällen, dem kleinsten wie dem grössten, ausgeliefert ist, als es sich vorübergehend meinem Einfluss entzieht und mich in eine fast verbotene Welt einführt: die der plötzlichen Annäherungen, der versteinernden Gleichzeitigkeiten, der dem Individum eigentümlichen Spiegelungen."
Während der Vorbereitungen zu einer aus drängendem Fernweh und spontanem Entschluss geborenen Idee einer Videodokumentation über die Erlebnistour einiger Freunde läutete das Telefon fast täglich in hoffnungsvollem Timbre. Erstaunlich, welche verschlungenen Pfade Informationslawinen zuweilen nahmen, nur um sich in meiner zu jener Zeit bescheidenen Mansarde zu kanalisieren.
Die Tour sollte liebevoll als 'Fitzcarraldo 2000' in unsere privaten Reisetagebücher eingehen, da wir, mitsamt unseres ein paar hundert Kilo schweren Gepäcks - mangels Direktflugs - gezwungen waren, mit sechs Flughäppchen in zwei Tagen an der Westküste Südamerikas entlangzuhoppeln, um letztlich in Arica/Nordchile anzukommen. Dort, auf einem Andenplateau, sollten wir Augenzeugen einer zweiminütigen totalen Sonnenfinsternis werden, sowie den nachts darauf anschliessenden Partyrausch am Strand der Halbinsel Isla del Alacrán initiieren. Soviel zur Projektbeschreibung. (Überflüssig, zu erwähnen, dass die Eclipse nichts weniger tat, als mein Leben zu verändern).
Der Singsang des Telefons kündigte eine neue Aufregung an. Valentina Sauca, eine Halbrumänin, die in Paris lebt, war gerade in Frankfurt angekommen, um ihre Mutter zu besuchen. Valentina's damaliger Freund interessierte sich für die zu erwartende filmische Auswertung unserer Odyssee. Claude Challe heisst der Gute und ist, wie ein dem Blumigen zugetaner Journalist formuliert: "a name that is being whispered like an east wind blowing from the exotic shores of the Orient". Er ist der Herrscher über das Pariser Partyvolk, seit er Ende der Sechziger den Club 'Les Bains-Douches' (eine französischer Version des 'Studio 54') übernommen und ihn zu weltweiter Berühmtheit geführt hatte (heute betreibt er u.a. die 'Buddha Bar'). Hui, diese Information haute mich um. Natürlich verabredete ich mich sofort zu einem Blind Date mit der Dame.
Wir fackelten nicht lange: Das Treffen sollte in einem Frankfurter Etablissement namens 'Nachtleben' stattfinden, ein zentral gelegener Schuppen, der dafür bekannt ist, der Ödnis des hiesigen Nachtlebens bloss einen neutralen Namen hinzuzufügen. Nur der Keller war wegen seiner netten, wöchentlich stattfindenden, als House-Parties konzipierten Familientreffen interessant. Die Türsteher hingegen, aus der Kaste der Erzproleten, bewaffnet, um den nordafrikanischen Dealern des angrenzenden Platzes das Hausrecht abzuerkennen.
Ich süffelte nervös an meinem Bier und beobachtete die Mélange aus Kneipengästen unterschiedlicher Langeweilegrade. Die Eingangstür ging auf - ein Gongschlag ertönte, der so laut war, dass ich meine Augen schliessen musste. Als ich sie wieder öffnete, trat die Dame schon schnurstracks an meinen Tisch. Wir hatten irgendein Erkennnungszeichen ausgemacht, ist ja auch egal. Ich bin viel zu aufgeregt.
Jetzt fehlen mir erst mal die Worte. Wie soll ich eine Frau beschreiben, deren blosse Präsenz es fertig bringt, eine Glocke über mich/uns zu stülpen, sodass der Rest der Welt praktisch nicht mehr existiert? Mein Gott, sowas passiert doch nur in Filmen! Das Projekt war mir erstmal wurscht. Wir fingen an, zu plaudern und verstanden uns prächtig.
Keine Ahnung, worum es in unserem Gespräch ging. Was taten wir hier? Wir amüsierten uns. Der traurig betonierte Platz in meinem Rücken war so hässlich, dass mein Held der Objektkunst, Jean Tinguely, sich einst geweigert hatte, dem Auftrag der Frankfurter Stadtverwaltung zu folgen, dort einen Brunnen hinzubauen. Sein Strawinsky-Brunnen in Paris hingegen versprüht so viel farbenfrohe Lebensfreude, wie ich sie gerade im Angesicht Valentinas empfand. Nur selten trifft man einen Menschen, in dessen Nähe man vom ersten Moment an spürt, dass eine besondere, unaussprechliche Verbindung existiert, die ein Leben lang halten wird.
Und hier sass offensichtlich Breton's Nadja; die Reinkarnation einer Frau, deren Inspiration ein Buch hervorgebracht hatte, das mich nach dreimaligem Lesen davon überzeugen konnte, für mich geschrieben worden zu sein. "Man könnte diese Ereignisse stufenweise ordnen (...), von der besonderen, unbestimmbaren Bewegung (...), die die Ankunft an dem und dem Ort in uns auslöst, begleitet von der sehr genauen Empfindung, dass für uns irgend etwas Schwerwiegendes, Wesentliches davon abhängt, bis zur vollständigen Veruneinigung mit uns selbst, die gewisse Verkettungen, ein gewisses weit über unser Verständnis hinausgehendes Zusammentreffen von Umständen bewirken."
Ein Klingeln ertönte, in seltsamen Klangfarben, unwesentlich leiser. Das hörte nicht ich, sondern Valentina. Diesmal hatte ich etwas zu ihr gesagt: wohl ein unbeabsichtigtes Kompliment, an das ich mich leider nicht mehr erinnern kann, was mich heute noch ein ganz klein wenig verzweifeln lässt. Aber es schien etwas in ihr ausgelöst zu haben - ihr Blick erzählte es mir -, das die aufkeimende, gegenseitige Zuneigung dezent aufblühen liess. "Es handelt sich um Ereignisse, deren eigentlicher Wert zu den unüberprüfbarsten gehört (...), die ihrer Art nach bloss festgestellt werden können, aber sie haben jedesmal ganz das Aussehen eines Signals, ohne dass man genau sagen könnte, was für ein Signal es ist, sie lösen in voller Einsamkeit das Bewusstsein unwahrscheinlicher Mitwirkung aus."
Die Zeit verging viel zu schnell. Man verabschiedete sich mit einem neu erworbenen, geheimen Wissen, das jeder für sich für den anderen in Metaphern zu kleiden wusste. Ich sah sie noch ein paarmal wieder; führte sie, den Fixstern der Nacht, stolz und geblendet in Frankfurt aus, besuchte sie in Paris.
Das letzte Mal sah ich sie im Kino: in Grossaufnahmen auf der Leinwand. Sie spielt an der Seite von Jean-Hugues Anglade in Jean-Jacques Beineix' neuem Film "Mortel Transfert" die Freundin des Hauptdarstellers, der eine fantastische One-Man-Show abliefert. Ich hörte ihre Stimme im Original. Ich zitterte ein wenig und war recht nah am Wasser gebaut. Leider war im Kino keiner meiner Bekannten anwesend, in dessen Arm ich mich hätte festkrallen können.
Valentina wohnt jetzt mit Beineix zusammen und hat vor kurzem eine Tochter geboren.
------------------
"Und so geht es mit den Wahlempfindungen (...); gerade das Unmitteilbare an ihnen ist eine Quelle unvergleichlichen Vergnügens."
Lesezeichen