Zürich hat einen Hausberg. Das ist nicht etwa der Zürichberg. Hausberge sind dazu da, dass man sie besteigt, ein bißchen auf die Stadt hinunter guckt, vielleicht etwas vespert, nachdem man auf einem kleineren oder größeren Spaziergang die saubere Waldluft eingeatmet hat. Wenn man auf dem Zürichberg spaziert , stehen da überall Villen herum, und man riecht höchstens den Reichtum aus den Fenstern, wenn die Dienstmädchen gerade lüften. Letzteres ist jedenfalls Sibylle Berg schon mal passiert, obwohl sie sonst nichts mit dem Zürichberg zu tun hat. Sonst hieße er wohl bald Sibylleberg. Zürich ist nämlich in dieser Beziehung sehr nett zu den Deutschen. Deshalb gibt es auch eine Hölderlin-, eine Goethe-, eine Klopstock-, eine Uhland- und eine Kinkelstrasse. (Fischer hat es erst zu einem Weg gebracht, aber vielleicht läuft er ja mal mit seiner Leibwache auf der Bahnhofstrasse, wenn er wegen den guten Italienern dieser Stadt mit der Luftwaffe Zürich besucht.)
Nein, der Hausberg Zürichs liegt genau auf der anderen Seite und heißt Uetliberg.
Von meiner Wohnung aus habe ich zu Fuß nicht mehr als drei Minuten zu einem neuen schmucken S-Bahnhof, von dem ich wiederum in fünfundzwanzig Minuten geradewegs bis zur Bergstation fahren kann.
Vorletzte Woche hat mich das schamlos schöne Oktoberwetter auf den Uetliberg gelockt. Am Berg selbst bin ich eigentlich nicht sonderlich interessiert, ich gucke auch nicht auf die Stadt hinunter; es gibt genug Menschen, die hochnäsig auf Zürich herab sehen. Mir ging es mehr um einen besinnlichen Spaziergang im Wald, den es auch gibt dort oben. Meistens spaziere ich allein, aber ich muß trotzdem hinzufügen, dass Wälder für mich etwas Erotisches haben. Ich weiss nicht genau warum. Vielleicht der weiche, nachgiebige, außerordentlich fußfreundliche Boden, die sanften, fast schon eleganten Bewegungen der Äste im Wind, das Spiel von Licht und Schatten, der würzige Geruch, der mich irgendwie an den Geruch von Schamhaar erinnert. Aber all dies kann auch sein, weil ich -wie fast jedermann- auch schon mal im Wald gevögelt habe. Das prägt.
Jedenfalls war ich allein auf diesem Spaziergang und machte einen schlappen Versuch, diese wunderbare Einsamkeit zu genießen, in der sich nur die im Wind schaukelnden Zweige berührten. Mit anderen Worten: Ich philosophierte über das Alleinsein, über seine Nachteile und Vorteile. Ich denke, auch wenn die Nachteile des Alleinseins überwiegen, kann man von Vorteilen eines Lebens zu zweit bloß unter gewissen nur selten zu erreichenden Umständen reden. Z.B. mit Claudia Schiffer oder Laetitia Casta an seiner Seite. Aber selbst dann würde das keinen Deut ändern an den Fährnissen der Instabilität von Zweierbeziehungen. Der Mensch ist seinem Wesen nach zur Einsamkeit verurteilt. In widrigen Fällen sogar beim Geschlechtsakt. Im übrigen braucht man sein Augenmerk bloß auf die Inkongruenz des eigenen Denkens und Fühlens zu richten, um sich darüber im klaren zu werden, dass es zwischen unterschiedlichen Hirnen und Herzen niemals eine Kongruenz geben kann.
Liebe möchte ja Kongruenz erzwingen, denke ich und lausche dazu dem Tirilieren eines mir unbekannten Vogels. Aber natürlich funktioniert das nur so lange, als der eine es für ein Geschenk hält, dass der andere so ist wie er ist. Früher oder später erfährt er das als Zumutung und möchte nur noch kompromißlos sich selbst sein. Er möchte (wie Lottmann) begehrt werden für das, wofür er sich selbst hält, für die Fiktion seiner selbst. Er möchte die absolute Zustimmung zu seinem eigenen egozentrischen Weltentwurf, in den er den andern schon ungefragt untergebracht hat.
Vielleicht wird jetzt jemand von euch einwenden, der Mensch sei schließlich ein soziales Wesen, ohne Austausch mit einem anderen würde er verkümmern. Dass ich nicht lache! Kürzlich las ich, dass sich Paare im Durchschnitt ganze drei Minuten pro Tag über ihre persönlichen Gefühle und Probleme austauschen, aber zweiunddreißig Minuten über Stefan Raab und Harald Schmitt, wenn nicht gar über Karl Moik, jedenfalls über Leute, die sie nur aus dem Fernsehen kennen.
Solcher Art zog also die Liebe nur als kleine melancholische Gefühlswölkchen an mir vorbei, und ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich im Kreis herum gelaufen war. Durch die Stämme hindurch sah ich bereits die Bergstation. Während ich mich bückte und meinen linken Schuh auszog, um meine Socke von piekenden Tannnadeln zu befreien, kam ich zu dem Schluß, dass das Leben mit bedeutend weniger Komplikationen aufwartet, wenn man es allein verbringt. Darin können Sie mir möglicherweise auch zustimmen, wenn sie eine Frau sind, dieser Sachverhalt ist nicht geschlechtsspezifisch.
Der eine oder die andere von euch mag ja nun sagen: ³Aber was ist denn mit dem Sex?'
³Na und,' sage ich da, ³muß man deshalb gleich mit einem anderen ein Paar bilden?' Was nämlich die Freuden des Geschlechtslebens in der Partnerschaft anbelangt, ist anzumerken, dass sich Paare über den dafür geeigneten Zeitpunkt oft uneinig sind. Für den, der sich im Bett auf die andere Seite drehen muß, ist das weit unangenehmer, als wenn überhaupt kein Geschlechtspartner zur Verfügung steht.
Von der purgatorischen Wirkung meines Waldspaziergangs überzeugt, wollte ich gerade der Einsamkeit des Waldes entsagen und mich wieder unter die Leute mischen. Da hörte ich das Knacken von Zweigen. Ich blickte auf und sah zwei Baumstammlängen vor mir ein möglicherweise schon etwas in die Jahre gekommenes Paar, also einen Mann und eine Frau. Sie wandten mir den Rücken zu, und der Mann zeigte mit ausgestrecktem Arm irgendwohin. Da hätte ich natürlich bereits Verdacht schöpfen sollen. Wenn ein Mensch wahllos irgendwo hinzeigt, ist äußerste Vorsicht geboten. George W. Bush tut es, Gerhard Schröder tut es, Toni Blair tut es, Silvio Berlusconi tut es. Vor allem tun sie es, wenn sie in Rudeln auftreten. So hebt man sich nachher auf dem Bild von den anderen ab. Es war aber keine Kamera zugegen. Nicht einmal eine versteckte. Der Mann zeigte vielleicht auf jenen seltenen, einsam tirilierenden Vogel in den Baumwipfeln, und die Frau gab ihm gleich darauf ein Küßchen, worauf der Mann sie an sich zog. Alles ganz harmlos, außer dass sich mir das Paar bei dieser von zweifelsfreier Zuneigung begleiteten Interaktion kurz im Profil zeigte.
Was soll ich sagen? Ich sah zwei Personen, bei denen ich als Schweizer sonst vor Scham sofort weggucke. Ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen, eilte ich auf die Bergstation zu und setzte mich in den bereits wartenden Zug, konnte es aber, als er anfuhr, doch nicht lassen, noch kurz aus dem Fenster zu gucken, ob Kurt Felix und Paola noch immer miteinander turtelten. Es war jedoch nichts mehr von ihnen zu sehen. Trotzdem kamen meine Überlegungen über die Liebe zwischen zwei Menschen auf der Talfahrt ganz schön ins Wanken. Hält Paola es für ein Geschenk, dass Kurt Felix so ist wie er ist? Oder hält Kurt Felix es für ein Geschenk, dass Paola so ist wie sie ist? Oder fühlen sich gar beide beschenkt?
Auf den verschlungenen Waldpfaden der Liebe stellt man das Denken besser ein.
(Beitrag wurde von Aporie am 12.11.2001 um 10:50 Uhr bearbeitet.)
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