In den ausklingenden siebziger Jahren, also in der vorgiulianischen Zeit, war New York eine Art Moskau der neunziger Jahre. Hinter jeder Ecke konnte ein Räuber lauern, die Damen aus der Park Avenue ketteten sich an ihre Handtäschchen, immer mehr Passagiere konnten die U-Bahn nur mit einem Messer im Rücken verlassen, selbst im Taxi musste man damit rechnen, auf offener Straße angehalten und ausgeraubt zu werden, während mitten auf den von hippen Läden gesäumten Gehsteigen und auf den Abzugsrosten der U-Bahn Penner und Junkies lagerten, unbeachtet von den Passanten, die mit routiniert abgewandtem Blick vorbeihasteten.
In eben dieser Zeit war ich das erste Mal in meinem Leben in New York, und auf meinen ausgedehnten Stadtwanderungen durchquerte ich das mit allerhand Gefahren aufgeladene Klima einer Weltstadt, die in sich selbst zu versinken drohte, mit kontrolliertem Schrecken. Eines Morgens verließ ich mein Hotel in der Nähe des Central Parks Richtung Penn-Central-Station. Ich wollte zum Madison Square Garden und hatte auf der Seventh Avenue gerade den Broadway überquert. Trotz Bahnhofsnähe wurde der Gehsteig nun übersichtlicher, und plötzlich sah ich in einer Entfernung von gut fünfzig Metern einen Mann mit einer Pfeife im Mund auf die Taxikolonne vor der Penn-Central-Station zugehen. Da er auf dem Weg zum vordersten Taxi war, kam er mir ein Stück weit entgegen, und plötzlich dachte ich: Da ist ja Max Frisch.
An dieser Stelle ein kleiner Einschub. Möglicherweise wird man mich jetzt wegen Reglementsverstoss auf den Kopf hauen, weil ich nämlich Max Frisch bereits kannte und auch er mich ein bißchen kannte, freilich nicht so, dass er meinetwegen durchgedreht hätte, wenn ich vor seinen Augen in ein New Yorker Taxi eingestiegen wäre. Auch hatte ich die Begegnung mit Max Frisch vor der Penn-Central- Station nur insofern willentlich herbeigeführt, als ich dem spontanen Impuls folgte, sofort loszuspurten, um ihn noch vor dem ersten Taxi abzufangen. Das gelang leider nicht ganz, denn ich war noch gute zwanzig Meter von ihm entfernt, als er das Taxi erreicht hatte und einstieg.
Ich geriet nun mitten im Lauf in einen Widerstreit. Ein Teil meiner selbst gebot mir, im Laufen einzuhalten, Frisch Frisch sein zu lassen und meinen Weg zum Madison Square Garden nur mit der Erinnerung fortzusetzen, in New York beinahe Max Frisch begegnet zu sein. Der andere Teil spornte mich zu einer ultimativen Höchstleistung an. Dieser Teil siegte, die aufkeimende Beschämung, Max Frisch mit meiner nun folgenden Handlungsweise zu erschrecken, nahm ich als Kollateralschaden in Kauf.
Nun muß man wissen, dass ein höfliches Paparazzentum damals noch so unvorstellbar schien wie heute die Bekehrung Bin Ladens zum Christentum. Deshalb galt Pappen klatschen nicht wie in unserer Zeit als eine bloß welfische Verirrung; jedermann der konnte, langte zu, besonders kräftig Richard Burton, Norman Mailer und Helmut Berger.
Das Pappenhafte meines Handelns war mir nicht einmal bewußt, aber meine Bedenken wuchsen, je näher ich an das Taxi heran kam. War das wirklich richtig, was ich hier tat?
Ich stoppte meinen Lauf. Denn mittlerweile stand das Taxi vor mir, auf dem Rücksitz der ahnungslos Passagier Max Frisch.
Wie gerne wäre ich nun mit angemessener Behutsamkeit wenigstens die letzten Schritte auf Zehenspitzen gegangen, die Knie dabei naiv angehoben. Aber da sah ich, dass der Wagen sich in Bewegung setzte. Ich war nun blindwütig entschlossen, mein Letztes zu geben. Da musste ich durch.
Frisch hatte ja eine Augenkrankheit, deren Auswirkung man heute nur noch an Kirch studieren kann, eine asiatisierende Verengung der Augen, Hängelider und hochgewuchtete Brauen, was zu einem sich keine Pause gönnenden authentisch blasierten Gesichtsausdruck führt. Den behielt er auch noch bei, als ich nach der Türfalle schnappte - die Tür öffnete sich dann von selbst, da das Taxi ja bereits in Bewegung war - aber als er mich dann erblickte (ich schäme mich, es zu sagen), sah ich Max Frisch zum ersten Mal mit geweiteten Augen,
Unsere Blicke trafen sich und hefteten sich sofort laserfest aneinander; ich versuchte ihm mit meinem Blick zu sagen, wie groß meine Freude wäre, ein bekanntes Gesicht aus der Schweiz unverhofft in New York anzutreffen, während sein Blick mir sagte: ³Richten Sie bitte keine Waffe auf mich, Sie können alles von mir haben, meine Armbanduhr, meine Pfeife, meine Brille, aber kein Geld, denn ich zahle in diesem Land ausschließlich mit Master Card und American Express.'
Für einen Moment fehlte uns beiden die Sprache, nach dem 50-Meter-Lauf war mein Mund eine Weile lang einzig zum Atmen zu gebrauchen, während im seinen noch immer die Pfeife steckte. Erst als ich seinen Namen nannte und den meinen zur Sicherheit hinterherschob, fand sein Gesicht wieder zurück in die Frischsche Blasiertheit. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte baff ³Wo chömed Sie dänn her?' Eine Frage, die nicht mehr bedeutet, als die verbale Verlängerung einer Schrecksekunde und auch, wie man weiss, nicht befriedigend beantwortet werden kann.
Ich warf einen kurzen Blick auf den Fahrer, der seinerseits vor einer Eskalation auf dem Rücksitz durch eine Trennscheibe geschützt war. Bis auf eine extrem fluktuierende Blinzelfrequenz konnte ich an ihm nichts Auffälliges beobachten.
Die paar Sätze , die ich schließlich hochroten Kopfes mit Frisch wechselte, bevor ich die Tür zart ins Schloß fallen ließ, habe ich nicht mehr in Erinnerung. Der Fahrer blickte unschlüssig blinzelnd Frisch an, Frisch blickte auf die Uhr. Er schien in Eile zu sein. Schliesslich gab er mir seine Karte, mit der Empfehlung, ihn doch in den nächsten Tagen anzurufen. Er hatte damals noch sein Appartement in New York.
Das Taxi fuhr wieder an, Frisch winkte, in der Winkhand die Pfeife, und ich setzte meinen Weg nach dem Madison Square Garden fort. Freuden- und Schamröte huschten wechselweise über mein Gesicht wie der Lichtschein einer monochromen Verkehrsampel. Jedenfalls habe ich dann Max Frisch nicht angerufen, weil ich nicht ein zweites Mal aufdringlich sein wollte.
Das nächste Mal sah ich ihn erst einige Jahre später wieder. Es war ein sonniger Februartag, als er aus der Stadelhofen-Passage kam , wo er in seinen letzten Jahren wohnte; seine Schritte wirkten müde, und die Pfeife hatte er nicht dabei. Vor dem südländisch wirkenden Kiosk, der sich damals noch in dem kleinen Park gegenüber dem Bahnhof befand, kaufte er eine Zeitung. Ich stand auf der anderen Seite der Straße, Frisch guckte nicht in meine Richtung, sondern warf einen blasierten Blick auf die Schlagzeilen der entfalteten NZZ. Er war merklich gealtert, trug aber blaue Jeans zu einem ebenfalls blauen Jeanshemd, und seine weiße Haare waren länger als früher. Ich überlegte, ob ich auf ihn zugehen wollte, ließ es dann aber, was mir später noch sehr leid tun sollte.
Zwei Monate später starb er. Ich war dann noch an der Abdankung (Helvetizismus für Trauerfeier) in der Kirche St. Peter, deren Fassaden sie kurz zuvor hellblau angemalt hatten, was ihm wohl nur ein blasiertes Lächeln abgerungen hätte.
Als ich am Sarg vorbei ging, verspürte ich ein Jucken in den Fingern. Wie gerne hätte ich unversehens den Deckel geöffnet und Max Frisch herausgeholt aus diesem Taxi in die Ewigkeit.
(Beitrag wurde von Aporie am 01.11.2001 um 23:56 Uhr bearbeitet.)
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