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Thema: Sander, Otto (Und noch eine Otto-Sander-Geschichte)

  1. #1
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    Dieser Mann scheint in der Tat recht umtriebig zu sein. In Berliner Szene- und Underground-Lokalitäten hatte ich bereits gelegentlich das Vergnügen, aus gebührlichem Abstand zu besagtem Mimen, dreikommavier Erfrischungsgestränke einzunehmen. Aber davon möchte ich nicht erzählen, weil's wenig Erzählenswert hat.
    Erzählen möchte ich von einer Begegnung, die sich auf dem platten Lande zutrug und mir Freude bereitet hat. Also: im September diesen Jahres hob Ben Becker mit seinen Nulltoleranzlern in einem vorörtlichen Veranstaltungszentrum mächtig ab. So laut wie er sich gern und reichlich öffentlich gibt, gestaltete sich auch Gesang und Musik. Trommelfellbelastend und enervierend, wenn man musikalisch keinen Zugang finden sollte. Aber die meisten im Saale bemühten sich (um Zugang). Man machte also insgesamt kollektiv recht munter mit, die Stimmung schien beinah familiär, interessanterweise obwohl - oder meinetwegen auch weil - BB gerade gestenreich Bomben über Dubai abgeschmissen hatte (selbstverständlich nur im Liedgutsinne). Nun denn, Bühnennebel verzog sich, Gitarrensaiten klangen aus, und der schwitzende Rotschopf vorn auf der Bühne verlangte zackig nach Hefeweizen und Putzlicht. Er wolle doch mal seh'n, für wen er hier so musiziere (so oder so ähnlich war glaub ich der Wortlaut). Das Saalpersonal zeigte sich nicht unbedingt reaktionsschnell, aber nach weniger freundlich angedrohtem Gesangsboykott ließ sich dann doch sowohl ersatzweise Becks Bier als auch der richtige Schalter finden. Und im gleißendhellen Neonlicht, auf einem knuckeligen Plastikgartenstuhl aus den bunten 70ern, sah man eine mindestens 90jährige, süße, alte Dame sitzen (Tante Lotte, wie sich später herausstellen sollte). Aus vermutlich akustischen Gründen presste sich die kleine Frau tapfer beide Hände auf die Ohren und schickte gleichzeitig ein ganz und gar zauberhaft versonnenes Lächeln Richtung Bühne und Berserker. Selbiger befleißigte sich auch prompt eines ganz und gar fröhlichen Winkens Richtung Dame.
    Wenig später nun gesellte sich Otto zu der besagten, reizenden Madame Courage und man einigte sich offensichtlich einvernehmlich auf zwei geistige Klargetränke. (Ich wollte zu und zu gern annehmen, man trank Absinth.) Dieser Vorgang wiederholte sich gelegentlich. Wie oft genau sich der Becher neigte, weiß ich aus eigener Anschauung nicht präzise zu berichten, jedenfalls neigte er sich genauso zwangsläufig wie der musikalische Vortrag des Ziehsohns irgendwann dem sicheren Ende und die Reihen lichteten sich. Selbstverständlich verblieb ein kleines Grüppchen wichtig guckender Gestalten mit Hörmuschelstellung a la Rhabarberblatt, in mehr oder weniger respektierlichem Abstand um Otto und Lotte.
    Ich entschied mich für ein letztes Glas im Stehen und schenkte dem Barkeeper meine Aufmerksamkeit. Das wurde auch angemessen erwidert und ich durfte mich eines leicht untertemperierten Weißweins erfreuen (bescheidenes Bukett, aber durchaus gefällig im Abgang). Bis sich mir alsbald rückwärtig eine Wodkaschwangere (schade!), schwer kondensathaltige Fahne näherte. Den verruchten Geruch hatte sich Otto erarbeitet, der sonor und melodisch Nachlage verlangte 'Tante Lotte und ich nehmen wohl noch was!'. Zwei Stunden bemüht, diesem Wesen der Öffentlichkeit Privatsphäre zu lassen, hatte ich ihn nun im Genick, und er schob seine zerfurchte Stirn von links unten in mein Gesichtsfeld. 'Wie heißen Sie, Verehrteste?' - 'Zoe.' - 'Frau Zoe (große Pause) wissen Sie eigentlich wozu dieser kleine, knopflochähnliche Ausschnitt am Revers gedacht ist?' (Deutet dabei auf den kleinen knopflochänhlichen Ausschnitt am Revers seines Anzugs) - 'Das ist meines Wissens für eine Rose oder anderweitiges Blütenwerk gedacht, Herr Sander.' - 'Richtig!' (Klappt das Revers zurück und deutet nunmehr auf einen kleinen, unscheinbaren, doch stabil gewebten Faden auf der Rückseite des Kragens, wenige Zentimeter unterhalb des knopflochähnlichen Ausschnittes) 'Und wissen Sie auch, welchen Sinn dieses kleine Fädchen hier hat?' - 'Nein, bedaure. Verraten Sie's mir?' - 'Gern. Dieses Fädchen hält den Blütenstiel, vorzugsweise den einer roten Rose.' (Er nannte dann auch den franzözischen Fachbegriff für dieses Bekleidungsdetail, aber das lässt sich bei mir obenrum nicht mehr recherchieren) 'Es gibt in Europa einen einzigen Schneider, der in jeden seiner gefertigten Anzüge dieses Fädchen näht. Finden Sie es dekadent, dass ich für einen solchen Fädchen-Anzug bis nach London reise?' - 'Nein, das finde ich romantisch.' - 'Danke.' (Handkuss) 'Ich muß mich jetzt wieder um meine Tante kümmern. Dieser Kerl da - wie heißt der noch gleich? - Becker, oder so - hat sie 'n bißchen aus der Fassung gebracht.' - 'Aber sicher.' - 'Hat mich gefreut.' Mich auch!

  2. #2
    Hobel Avatar von Ignaz Wrobel
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    Zoe007, ganz reizend, Sie haben Talent! Sowohl zum beherzt-charmanten Paparazzen als auch zur Wort- und Satzerzeugung! Willkommen!

  3. #3
    Avatar von Goodwill
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    Finden Sie es dekadent, dass ich für einen solchen Text bis nachts vor dem Bildschirm sitze?
    Danke & Handkuss

  4. #4
    Avatar von Lenin
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    Herr Sander hat ganz recht. Die besten Anzüge kommen immer noch aus London. Das Hinreisen ist nicht mehr das Teure, aber das Erwerben ist es geblieben.
    seufzt bitterlich
    Aber ein bisschen dekadent ist es schon. Das kann man einem Otto Sander jedoch nachsehen. Dieser Gechichte demgegnüber ist nichts nachzusehen, weil es auch nichts auszusetzen gibt.

  5. #5
    Comandantina
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    Frau Zoe Bond ist begabt und willkommen, aber die besten Anzüge schneidert Schneidermeister Dick aus Gföhl im Waldviertel. Das hat mir jedenfalls H.C.Artmann erzählt, als ich ihm eines Abends andächtig an den Ärmel gegriffen hatte um den Stoff seiner Jacke zu bewundern.

  6. #6
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    Gruß an Ignaz vorab, dessen Beiträge ich seit nicht unwesentlicher Zeit mit Freude verfolge.
    Weiß irgendwer vor Ort wie sich besagtes 'Fädchen' im Fachjargon nennt? Das Wissen darum ist unbenommen weniger beeindruckend als der Fähigkeit des Feuerentfachens mittels naturgemäßer Materialien habhaft zu sein, würde mich aber dennoch ein Stück weit faszinieren.

  7. #7
    Hobel Avatar von Ignaz Wrobel
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    Danke, bist Du die quirlige Freundin von Hertha? Hätte nicht gedacht, daß Du bei soviel Energie auch noch solche Sätze zu drechseln imstande bist.
    Wollte gerade antworten: Wie soll jemand wissen, wie das Fädchen heißt? Das macht doch außer dem englischen Schneider niemand! Und niemand von uns besitzt solch einen textilen Ausbund an Raffinesse, ich schon gar nicht. Dann ließ mich die Neugier doch im Kleiderschrank wühlen. Und was soll ich sagen - ICH HABE ein solches Jackett!
    Von Hawkes & Co. Ltd., 1, Savile Row, W.1., gefertigt am 27. März 1962 für... leider, ähem, nicht mich sondern einen Dr. F. Borger.
    Erstanden in London, auf einem Flohmarkt vor 15 Jahren. Damals war es mir noch zu weit (Dr. Borger war etwas fülliger), heute kann ich es tragen. Jetzt auch mit Rose im Knopfloch. Ich werde es mein 'Otto-Sander-Jakett' nennen. Danke Zoe, nochmals.

  8. #8
    Comandantina
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    Ignaz Kirchner, ein anderer zerknitterter Mime hat in jedes seiner Kleidungsstücke einen roten Faden eingenäht, in seine Jacken, Hemden, Unterhosen, ja selbst in seine Socken. Dies hat er mir Ungläubigen beweisen können.
    Man müsste nun untersuchen, ob nun Sanders von Kirchner, Kirchner von Sanders oder aber ob sie unabhängig von einander zu den roten Fäden gekommen sind.

  9. #9
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    Ignaz, ich fühle mich fast versucht Kusshände in diese virtuelle Welt zu hauchen, jetzt sofort, auf Deine Häne, das Jackett, Savile Row, W1 - und überhaupt.

  10. #10
    Hobel Avatar von Ignaz Wrobel
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    slightly flushing
    Nicht doch. Das wäre doch mein Text.
    A propos Text: Hier kam mir spontan, wie unmöglich dieser Text von irgendeinemSchauspieler vorgelesen klänge. Insbesondere mit diesem bedeutungsschwangeren, dabei ironisierenden Unterton derjenigen im Deutschen Theater. Das könnte nur Sanders selbst oder aber die Autorin ernsthaft machen. Vielleicht wäre das überhaupt die Lösung. Einige Geschichten, die es vertragen, von Schauspielern, einige von den Autoren. Dann aber mehr so Werkstattcharakter. Nur so eine Idee.

  11. #11
    Hobel Avatar von Ignaz Wrobel
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    Jetzt schreib ich auch schon Sander s! Andrea Maria!

  12. #12
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    'An der Unterseite des linken Revers, unterhalb des Knopflochs, sitzt eine horizontale Schlaufe, in die der Stiel einer im Knopfloch getragenen Blume gesteckt werden kann. Dieses Detail wird typischerweise mit Maßanzügen in Verbindung gebracht, obwohl es kein Problem wäre, eine solche Schlaufe auch in Konfektionsanzügen anzubringen. Vermutlich tragen also nur die Kunden der Savile Row Blumen im Knopfloch.' aus: Bernhard Roetzel, Der Gentleman. Handbuch der klassischen Herrenmode, Köln 1999, S. 96. Übrigens ein sehr gut gemachtes, informatives und zudem nützliches Buch für alle Anhänger gut angezogener Männer.
    Dort kann man auch erfahren, dass der Schneider in 1, Savile Row, London heute Gieves & Hawkes heißt. Es wird in Räumen geschneidert, die ehemals der Royal Geographic Society als Hauptquartier dienten.
    Ein paar schöne Abkürzungen aus dem Büchlein der cutter:
    FS = forward stomach (deutsch: Spitzbauch)
    DRS = dropped right shoulder (Quasimodo)
    BL 1, 2 oder 3 = bowed legs (Säbelbeine), sie werden in drei Krümm-Steigerungsformen notiert usw.
    'Wenn der Anzug auf der Straße als neu erkannt wird, hat der Schneider schlechte Arbeit geleistet (...), (denn) der Anzug muss wie angeboren aussehen.'
    Im Kapitel Die Bar in der Tasche steht: 'Die Taschenflasche darf nicht zu klein sein, wenn sie ihre Funktion wirklich erfüllen soll.' Auch die Sorge, mit Personen, deren Verhältnis zum Alkohol nicht ungetrübt ist, verwechselt zu werden, 'sollte uns nicht daran hindern, die unzweifelhaften Vorteile der Taschenflasche selbstbewußt zu nutzen.'
    Eine Schlaufe heißt auf Englisch loop. Ob dies spezielle Schlaufe auch so genannt wird?
    (Beitrag wurde von Easy line am 17.10.2001 um 03:14 Uhr bearbeitet.)

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