Hans-Christian Ströbele kommt standesgemäß vorgefahren: Der drahtige, weißhaarige 63-Jährige schält sich aus seinem schmalen Elektroauto, das das Kennzeichen "KB" für Kreuzberg ziert. In seinem Wahlkreis hat Ströbele als erster Grüner in der Geschichte ein Direktmandat errungen. Wobei der Wahlkreis nicht nur aus dem Westberliner Stadtteil Kreuzberg besteht, sondern auch aus den bisherigen PDS-Hochburgen Friedrichshain und Prenzlauer Berg in Ostberlin.
Für Ströbele, der in den vergangenen vier Jahren zu den profiliertesten grünen Parlamentariern zählte und vor allem durch seine Auftritte beim Untersuchungsausschuss zur CDU-Spendenaffäre bekannt wurde, war es die einzige Chance. Seine politische Karriere schien beendet. Denn überraschend schaffte Ströbele, der als letzter Linker in der Riege der Parlamentsgrünen gilt, keine Nominierung auf einem aussichtsreichen Platz auf der Landesliste.
Deshalb tingelte der frühere Anwalt von RAF-Terroristen monatelang durch seinen Wahlkreis und pries sich in einem bisher beispiellosen Persönlichkeitswahlkampf selbst als Direktkandidat an. Es gibt wohl keine Kneipe in Kreuzberg, die er nicht - mit Broschüren "Erststimme Christian Ströbele" in der Hand - persönlich aufsuchte. Darin zitierte er aus Reden im Bundestag und führte fast stolz an, dass ihn der bekanntlich konservative bayerische Innenminister Günther Beckstein als "geistiger Mittäter" der Ausschreitungen von Globalisierungskritikern in Genua im Sommer 2001 bezeichnet hatte.
Kurz vor dem Urnengang griff ihn am Freitag an einem Wahlkampfstand ein Rechtsextremist an. Er prügelte mit einem Stahlschlagstock auf den Kopf des bekennenden Pazifisten ein. Dass er von hinten angefallen worden sei, habe ihn am meisten wütend gemacht, gab Ströbele später zu Protokoll. Ströbele verfolgte den Mann und rief die Polizei, bevor er sich ins Krankenhaus begab, wo er wegen einer Gehirnerschütterung behandelt wurde und deshalb bei der Wahlparty fehlte.
Joschka Fischer gratulierte ihm telefonisch, obwohl Ströbele auf seinem Wahlplakat mit folgendem Slogan um Stimmen warb: "Ströbele wählen heißt Fischer quälen!" Ströbele solle ihn "ruhig weiter quälen", meinte der Außenminister gut gelaunt zum Erfolg des innerparteilichen Gegenspielers bei der Debatte um Militäreinsätze der Bundeswehr. Ob ihm die Freude vergeht, wird sich in den nächsten vier Jahren zeigen. Ströbele kündigte an, sich in erster Linie seinem Gewissen und den 40.208 Menschen, die ihn gewählt hätten, verpflichtet zu fühlen, als seiner Partei trotz knapper Mehrheitsverhältnisse. Ströbele wird auch als Angehöriger der Regierungsfraktion Oppositioneller bleiben. (Alexandra Föderl-Schmid/DER STANDARD, Printausgabe, 25.9.2002)
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