Ich arbeite zu viel und ich höre zu viel. Neulich hörte ich in einer Filiale der Konditoreikette 'Aida', daß Heinz vor Jahrzehnten genau jene Dame entjungfert hatte, die nun mehrere Tische von mir entfernt Torte aß. Ich hatte Papiere vor mir liegen, von meinem Schreibtisch mitgebrachte Zettel die ich lesen wollte, ich hatte und habe keine Ahnung wer Heinz war oder ist, ich hörte aber (selbst ebenfalls Torte essend) wie jene Dame ihrer Begleiterin berichtete, daß sie 18 gewesen sei, als 'es ernst geworden ist mit dem Heinz'.
Ich höre auch von Zeit zu Zeit einen Pfeifton im rechten Ohr. Der Ohrenarzt nennt eine Reihe von möglichen Ursachen für dieses Phänomen, häufig jedoch würden die Ohrenärzte im Dunkeln tappen diesbezüglich, diagnostisch. Ich möge zunächst einen Hörtest machen. Es wurde ein Donnerstagtermin vereinbart, der Donnerstag ist der Tag der Hörtests, diese werden von einer an diesem Tag anwesenden Kollegin des Ohrenarztes durchgeführt, einer sehr attraktiven Person die glücklicherweise gleich Gefallen an jenen sich aus dem Testvorgang ergebenden Kurvenverläufen fand. Diese lägen teilweise sogar 'über der optimalen Linie'. Ich höre also zuviel. Einzig im unteren Frequenzbereich wies die Kurve für das linke Ohr eine kleine Delle auf, vermutlich auf einen lauten Knall zurückzuführen oder auf das Hüsker Dü Konzert im Wiener Messepalast 1987.
Die Pfeiftonursache blieb unerkannt. Der Blutdruck war in Ordnung, Raumforderungen im Schädelbereich konnten mit Hilfe bildgebender Verfahren ausgeschlossen werden, möglicherweise sei also Stress die Ursache, ich arbeite zu viel, mutmaßte der Arzt. Natürlich bekam ich ein Medikament verschrieben, durchblutungsfördernd, laut Beipacktext auch gegen Demenzerscheinungen einsetzbar. Ich möge in 2-3 Wochen zu einer weiteren Untersuchung erscheinen, dann werde man weitersehen, so der Ohrenarzt.
Ich nahm die Demenztabletten regelmäßig ein und betrat zum vereinbarten Termin erneut die Praxis. Im Warteraum saßen Wartende, es lagen die üblichen Zeitschriften auf. Ich begann, in einer Ausgabe von 'GEO' zu blättern. Es war März und bereits frühlingshaft, der Warteraum war etwas übertemperiert, die Fenster blieben jedoch geschlossen. Das schmatzende Geräusch des Öffnens der gepolsterten Behandlungsraumtüre entstand zum einen dann, wenn die Sprechstundenhilfe dem Arzt Unterlagen reichte, um anderen, wenn dieser herauskam um Wartende zum Eintreten aufzufordern. Ein Satz oder ein Foto oder eine Bildunterschrift in 'GEO' erheiterte mich, leider vermag ich mich heute nicht mehr daran zu erinnern. Einmal blieb die Sprechstundenhilfe länger im Behandlungsraum, eine Unregelmässigkeit der Abläufe entstand und verstärkte sich, als beide, Arzt und Arzthilfe, zugleich in den Warteraum traten und rasch die Vorhänge vor den Warteraumfenstern zur Seite schoben. Es gab etwas zu sehen, auch Patienten erhoben sich und blickten auf die Strasse. 'Sind das ihre Kinder?' fragte jemand, ich hörte: 'sie sieht geschockt aus'. Ja, das wären gewiss ihre Kinder, sie habe ja bereits drei, das jüngste sei erst im Vorjahr zur Welt gekommen, deshalb sei sie derzeit nicht im Fernsehen zu sehen. Die Türe sei ja komplett abgerissen, sie müsse, ohne auf den Fliessverkehr geachtet zu haben, einfach die Wagentüre aufgemacht haben, wie könne man so gedankenlos sein.
Ich hatte beabsichtigt, für diesen Bericht in einer Bibliothek die Ausgabe März 2000 der Zeitschrift 'GEO' einzusehen, um herauszufinden, was mich darin damals erheitert hatte, ich wollte das hier wiedergeben. Leider habe ich bisher keine Bibliothek aufgesucht, ich hatte keine Zeit, ich arbeite zu viel.
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