Ich stand im Zürcher Regen und wartete auf ein Taxi, das mich nach Hause bringen sollte. Ich war müde, nass, ich fror und war leider nicht betrunken genug, als dass mir das alles egal gewesen wäre.
Ich sah das Taxi von weitem kommen. Es kroch die dunkle und nasse Strasse herauf. Es fuhr in einem Tempo, als ob der Fahrer eine Hausnummer suche. Als es neben mir hielt, bemerkte ich verwundert, dass es ein mindestens 20 Jahre alter Mercedes war. Sowas fällt einem in Zürich auf. Hier haben die Leute keine Autos, die älter sind als 10 Jahre. Wenn doch, dann sind es echte Oldtimer. 20 Jahre alte Autos aber sind dem Schweizer fremd. Meinem Taxifahrer scheinbar nicht. Ich stieg ein. Hinter dem Steuer sass ein enorm kleiner, alter Mann. Er schien kaum übers Lenkrad schauen zu können und sass in bizarrer Haltung auf dem Fahrersitz, den er ganz nach vorne geschoben hatte, die Rückenlehne war in einem Winkel zur Frontscheibe hin geneigt, und erreichte ihn trotzdem nicht. Wir fuhren los und das Tempo, in dem er gekommen war, änderte sich nicht, wir schlichen über den Asphalt. Ich glaube nicht, dass er während des gesamten Weges je schneller als 40 km/h fuhr. "Naja", dachte ich, "wahrscheinlich sind seine Beinchen so kurz, dass er das Gaspedal eben nur antippen kann."
Das Männlein hatte mich als Deutschen identifiziert und quasselte nun von allerlei Deutschlandreisen, die es gemacht hatte und nannte dabei Ortsnamen, die ich nie zuvor gehört hatte und Flüsse, von deren Existenz ich nichts wusste. Ich nickte kenntnisreich und kriegte gute Laune: Das Männlein war sehr nett und fidel, ich durfte rauchen, freute mich an der bizarren Situation, mit einem greisen Zwerg nachts durch die Schweiz zu cruisen und liess mich von meinem Chauffeur vollplappern. Plötzlich verstummte er. Mitten im Satz. Brach ab und hielt inne und lauschte. Das Radio lief, es lief schon die ganze Zeit, sehr leise. Das Männlein drehte nun aufgeregt lauter und wir hörten einen Song von Elvis, Wooden Heart. Das Männlein schwieg ernst und lauschte dem Lied und als es vorbei war, drehte es den Ton wieder leise und sprach eine Zeit lang nicht. Dann sagte es ganz leise, als verriete er mir ein Geheimnis: "Bad Nauheim." Ich guckte es verständnislos an und da erzählte das Männlein ganz leise eine Geschichte und die ging etwa so:
Ende der 50er Jahre war ich mit unserer Herrenmannschaft zu einem Radball-Turnier in Bad Nauheim. Abends sassen wir mit den anderen Teams in einer Kneipe und tranken Bier und waren lustig. Damals wurde ja auch immer noch gerne und viel gesungen, wenn man beisammen sass. Wir Sportskameraden hockten alle um einen grossen runden Holztisch herum und tranken und sangen. Plötzlich kam Elvis Presley herein, zusammen mit zwei Begleitern. Sie setzten sich sehr schnell zu uns, weil wir einfach eine lustige Runde waren. Es wurde aber gar nicht viel geredet, wir sprachen ohnehin kaum Englisch und Elvis sehr schlecht Deutsch. Dafür haben wir gesungen. Elvis hat uns amerikanische Volkslieder beigebracht und wir ihm deutsche und schweizerische. Das war sehr lustig, weil wir alle die Sprache der anderen nicht so richtig konnten. Ein Lied hat ihm besonders gut gefallen. Das mussten wir immer und immer wieder singen und er hat sich sogar vom Wirt einen Stift besorgt und wir haben ihm den Text auf mehrere Bierfilze geschrieben, die er eingesteckt hat. Später hat er das Lied auf Platte aufgenommen. In einer englischen und deutschen Version. Und hat es Wooden Heart genannt, seine Version von Muss I denn zum Städtele hinaus. Ja, das war Bad Nauheim.
Dann lächelte das Männlein und dann summte es Wooden Heart bis vor meine Haustür. Dort entliess es mich in den Regen und kroch hügelan weiter. Summend und lächelnd, jede Wette.
Lesezeichen