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Thema: Seeßlen, Georg geht auf den Friedhof

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    Avatar von Werrnerr
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    Seeßlen, Georg geht auf den Friedhof

    Im hiesigen städtischen Kulturverein gibt es seit 1987 eine Kinoabteilung. Bislang zeigte diese Untergruppe wöchentlich einen Film im Kulturzentrum. Geleitet wurde sie von meinem Freund Alex, einem Cinephilen erster Güte. Es hauste in einer Zweizimmerwohnung, die angefüllt war mit zu Rollen gedrehten Filmplakaten, mit Filmliteratur angefüllten Billy-Regalen, die wiederum zweifach übereinandergestapelt waren und einer unzählbaren Menge von selbst aufgenommenen Video-Kassetten. Der Tisch diente dazu, die verschiedenen nationalen und internationalen Filmzeitschriften in Stapeln abzulegen, ebenso türmte sich auf dem Fernseher eine ansehnliche Zahl an Film- und Fernsehheften, während unter dem Fernseher zwei Video-Rekorder Platz fanden.

    Irgendwann rief Alex mich an und berichtete über die Vorbereitungen zur 10-Jahresfeier der Kinoabteilung. Anlässlich des Festaktes sollte „Rio Bravo“ von Howard Hawks gezeigt werden. Hierzu würde, und das war die Sahnehaube auf die Veranstaltung, Georg Seeßlen, der namhafte Filmpublizist, einen einleitenden Vortrag halten. Ich war beeindruckt. Von Seeßlen hatte ich einiges gelesen. Gerade in diesem Jahre hatte er ein Buch über die Filme von David Lynch veröffentlicht. Und der sollte in die Provinz kommen?

    Die Jubiläumsveranstaltung rückte näher. Alex saß mit mir in der Küche und erzählte mir von seinen Vorbesprechungen mit Seeßlen. Beeindruckt war er von dessen Bescheidenheit, denn Seeßlen sagte ihm, der Verein brauche für ihn kein Zimmer zu reservieren, er wäre auch mit einem Platz für eine Luftmatratze zufrieden. Das Problem, das Alex hatte, war die Freizeitgestaltung für Herrn Seeßlen, der seine Ankunft für die Mittagszeit angekündigt hatte. Was solle er tun bis zum Abend?

    Ein paar Wochen vorher hatte ich gelesen, zufällig und überhaupt nicht im Hinblick auf die Festveranstaltung, dass Seeßlen in München bildende Kunst studiert hatte bei K.F. Dahmen. Der wiederum war ein Sohn meiner Heimatstadt und ist ebenda beerdigt. Dahmen hatte sein Atelier fünf Minuten entfernt von meinem Elternhaus. Wenn er aus seinem Fenster sah, blickte er auf den Friedhof, auf dem er heute ruht. Als Kind ging ich oft mit meiner Mutter dort spazieren. Das große, weiße Haus mit Flachdach und das riesige Fenster faszinierten mich, und jedes Mal frug ich, wer da wohne. Dann sagte meine Mutter, und ihre Stimme klang ehrfürchtig: „Der Maler Dahmen.“ Ihn selbst fand ich auch sehr beeindruckend: ein weißhaariger Herr, der mit Baskenmütze am Steuer seines braunen, mit weißem Dach ausgestatteten Citroen DS nahezu täglich an unserem Haus vorbeirauschte. Der Maler Dahmen. Irgendwann rauschte er nicht mehr vorbei, sondern nach München. Und da studierte Georg Seeßlen.

    Nicht weil ich es für einen konstruktiven Vorschlag hielt, sondern um Alex mit meinem Wissen zu überraschen (Alex war nicht hinreichend über den akademischen Werdegang Seeßlens informiert), schlug ich für die Tagesgestaltung einen Besuch am Grabe des Malers Dahmen vor. Erstaunlicherweise zeigte sich Alex von dieser Idee begeistert.

    Der Tag der Festveranstaltung war gekommen. Ich hatte noch reichlich Zeit, bevor der Film gezeigt wurde. So stand ich in der Eingangshalle des Kulturzentrums noch zusammen mit Ellen, der Ex-Freundin von Alex und unterhielt mich mit ihr. Sie erzählte mir, dass Alex sie vor ein paar Tagen angerufen habe mit der Bitte, sie möge sich doch bitte um Georg Seeßlen kümmern, denn er, Alex, hätte keine Zeit wegen der ganzen Vorbereitungen für den Abend. So fuhr sie dann zum Bahnhof, holte Seeßlen ab und fuhr mit ihm zu ihrer Mutter (Ellen selbst wohnte in Köln). Dort verbrachten sie einen Teil des Nachmittages Kaffe trinkend und Mutters selbstgebackenen Kuchen essend. Später dann fuhren sie, auf dringendes Anraten von Alex, zum Friedhof und besuchten das Grab von K.F. Dahmen, wobei Seeßlen wohl bemerkte, das sei ja eine nette Idee gewesen. Ich stellte mir die weitgehend ahnungslose Ellen auf dem Friedhof vor, im Schlepptau einen möglicherweise leicht irritierten Filmjournalisten, beide eine Grabstätte mit einem Metallobjekt statt eines Grabsteins suchend.

    Die Veranstaltung begann: Seeßlen hielt sein Referat, der erste Teil von „Rio Bravo“ wurde gezeigt. Dann gab es eine Pause, und zwar deshalb, weil im Kulturzentrum nur ein Projektor steht und die Rollen gewechselt werden mussten. Während der Pause stand Seeßlen an einem Verkaufsstand, den die ortsansässige Buchhandlung aufgebaut hatte, und signierte seine Werke. Alex kam hinzu, legte seine Hand auf Seeßlens Schulter, wies mit der anderen auf mich und meinte: „Herr Seeßlen, das ist mein Freund Werrnerr, der mir den Tip mit dem Friedhof gab.“ Mit einem freundlichen Händedruck und einem ebenso freundlichen „Aha!“ wurde mir die gute Tat vergolten.

    Dann signierte er mir das David-Lynch-Buch, das ich mir vorher noch kaufen musste.
    Geändert von Werrnerr (03.08.2004 um 11:52 Uhr)

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