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Thema: von Weizsäcker, Richard

  1. #1
    Member Avatar von mart
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    Des Menschen Getue auf der Welt beschleunigt sich ständig. Man denke an die Möglichkeit, morgen auf der anderen Seite der Welt den Boden küssen zu können, an Olympiaden, wo immer höher gehüpft, weiter gesprungen und schneller gelaufen wird oder an das Medium, in dem wir uns hier tümmeln, das ja bekanntlich einen recht rapiden Entwicklungsrhythmus pflegt. Gesund ist das nicht: schließlich ist der Mensch für eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h konstruiert, womit diese etwas abstrakte Einleitung uns direkt in die Nähe eines Prominenten bringt, der meine Einschätzung sicherlich teilt. Ersteinmal allerdings nur in die Nähe, denn es gilt vorerst, meine ganz persönlichen Konsequenzen aus dem Gesagten zu erläutern: ich bin ein überzeugter Spaziergänger. Winters wie sommers, in der Stadt (wo es meines Wissens 'flanieren' genannt wird), auf dem Land, im Wald (hier kann es auch in Wandern übergehen), am Meer (Schwimmen ist natürlich auch super), im In- oder Ausland (egal!)...
    'Langweiler!' werden die Meisten rufen. Diese Geschichte jedoch ist mein in Wort gegossener Einwand: Auf einem Weg von einer halben Stunde habe ich nicht nur meine Synapsen gelabsalt, sondern wurde mit zwei Prominenten und einem schrecklichen Vorfall konfrontiert. Als wäre das nicht schon genug für einen einzelnen Menschen, ist mir erstmals das wahnwitzige Tempo der Medienmaschinerie bewusst geworden.
    Es war der Dezember 1993. Meine Route stand fest, denn es handelte sich um einen 'Zweckspaziergang', der immer dann zum Einsatz kommt, wenn nicht um des Spaziergehens willen spaziert wird, sondern ein definiertes Ziel am Ende des Weges wartet. Von dem hamburger Karolinenviertel sollte es in den kleinen Konzert-Klub 'Knust' gehen, wo irgendwer zum Tanz aufspielte. Der Weg ist recht ansehlich, führt er doch direkt durch die abends angenehm ausgestorbene Innenstadt der Schatzstadt. Es war früh, nix pressierte und ich beschloss einen kleinen Umweg zu machen, der mich am Thalia-Theater, neben dem Schauspielhaus das zweite große Haus am Platze, vorbeiführte. Vor dem Thalia: Roter Teppich und Menschenauflauf. 'Premiere', dachte ich und war schon etwas verärgert, gezwungenermaßen entweder Straßenseite oder Tempo zu wechseln. Gerade als ich die Menschen vor dem Eingang passieren wollte, fiel mir ein älterer, wohlgekleideter, weißhaariger Mann auf, der sich die Nase hielt und von zwei jungen, wohlgekleideten, schwergebauten Begleitern in die falsche Richtung geleitet wurde, nämlich weg vom Theater. Nicht die einzige Ungewöhnlichkeit: Die Gesichter des Premierenpublikums spiegelten nicht die Freude über einen gelungenen Theaterabend, sondern hatten etwas schockiertes und gleichzeitig erregt starrendes. Ich schaute also leicht verwirrt durch die Gegend und sah ein zweites Mal den Mann, der seine Nase hielt - er ging jetzt ungefähr einen halben Meter vor mir über den roten Teppich zum Auto - und da sah ich: Das ist Richard von Weizsäcker. Der Bundespräsident. Ein echter Präsident, wie ich finde. Adelig, stolz, vernünftig, mit natürlicher Autorität ausgestattet. Ein Mensch, der im Krieg noch seinen Goethe las!
    'Komisch', dachte ich, rieb den Zeigefinger drei Mal unterhalb der Nase entlang, ohne auf eine Idee zu kommen, warum dieses stattliche Staatsoberhaupt, Nase haltend und überstürzt eine sicherlich schöne Premierenfeier verlässt. Ob bereits Polizei vor Ort war, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls fasste ich den Entschluss, meinen Weg fortzusetzen. Von Weizsäcker war verschwunden, und ich war ja nur aufgrund des Zufalls an diesen Ort gekommen, hatte dort also nichts mehr zu suchen.
    Vom Thalia führte der Weg weiter die Mönckebergstraße überquerend zu einem Gebäude, indem Radio Hamburg sein sog. 'Gläsernes Studio' betreibt. Man kann von außen den Moderatoren bei der Arbeit zuschauen und -hören. Nicht meine Tasse Tee, aber als ich in den Lauschkreis des Lautsprechers geriet, hörte ich einige Wortfetzen: 'Anschlag.... Weizsäcker... Hamburg...'. Das war's aber auch schon. Ein Konzert voller Unruhe und eine Nacht nervösen Schlafes später erfuhr ich die ganze Wahrheit: Weizsäcker hatte vor dem Thalia-Theater einen auf die Nase bekommen. Und zwar von Günter Roersch, dessen Biografie auch auf ein bewegtes Leben schließen lässt: Erst hamburger Rotlichmilieu, dann deutschen Meister im Superschwergewicht der Gewichtheber (1975) und heute praktizierender Rechtsradikaler.
    Ein Glück, dass ich nicht nach einem Autogramm gefragt habe. Und auch nicht über die Wirkung von Goethe in Extremsituationen diskutieren wollte. (nebenbei: weiss jemand, weshalb der roersch so sauer war auf den weizsäcker?)
    Zur Theorie des Spazierengehens sei noch angemerkt, dass dies ein Spaziergang der erheblich beschleunigten Ereignisse war und deswegen bestimmt nicht sehr gesund. Und dass der berühmte Nasenschlag bereits nach zehn Minuten im Radio übertragen wurde, ist doch eine hübsche Illustration der etwas ausgeuferten Einleitung?!

  2. #2
    Moderator Avatar von Ruebenkraut
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    Obwohl über diesen Anschlag nach zehn Minuten im Radio berichtet wurde, hat mich die Nachricht erst heute, nach acht Jahren, erreicht. Entweder hatte ich davon gelesen und es wieder total vergessen - aber auch jede Spur der Erinnerung - oder dieser Vorfall ist meiner Zeitungs- und Nachrichtenlektüre netgangen. Dank mart weiß ich jetzt, dass auch Weizsäcker zu den beanschlagten Politikern gehört...
    Das lässt die lange Vorrede übers Spazierengehen tatsächlich als lässliche Sünde erscheinen.

  3. #3
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    Beim Stichwort 'Weizsäckers Nase' fällt mir gerade auch was ein: Ich war 1992 zum Jugendtreffen des Bundespräsidenten ins Schloß Bellevue geladen. Natürlich nicht allein, sondern mit einem ganzen Rudel Jugendlicher aus Bayern, die alle die Ehre hatten, mit ihrer Schülerzeitung beim bayerischen Schülerzeitungswettbewerb den ersten Platz irgendeiner Kategorie zu belegen. Wir, das heißt vier Personen, hatten in der Sparte 'Berufsschulen' gewonnen. (Huhu! Joh.-Viessmann-Berufsschule in Hof!)
    Als dann nun an diesem denkwürdigen Tag der ehrenwerte Herr Bundespräsident durch die Zelte flanierte, um sich unter die Jugend Deutschlands zu mischen, hatte ich auch die Ehre, ihm die Hand zu schütteln. Zweimal. Ich hatte mich nämlich nach dem ersten Mal nach hinten gestellt (damals war ich noch ziemlich schüchtern) und er kam dann extra zu mir, um mir nochmal die Hand zu schütteln. Da entdeckte ich zwei Sachen: Erstens war er kleiner als ich. Ich bin 175 cm groß, er war gut einen halben Kopf kleiner. Und zweitens wuchsen ihm Haare aus den Ohren und der Nase. Das fand ich ziemlich ekelig. Und deshalb ist es mir ganz besonders im Gedächtnis haften geblieben.
    Vielleicht hat sich G. Roersch auch über die Haare mokiert? (Wär natürlich völliger Schwachsinn, aber man weiß ja nie...)

    (Beitrag wurde von Heikele am 04.04.2001 um 21:57 Uhr bearbeitet.)

  4. #4
    Member Avatar von mart
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    zum thema 'prominente beim spaziergang' fällt mir noch carlo von tiedemann ein. 'die aktuelle schaubude', die carlo zusammen mit illustren damen wie zB viktoria von campe moderierte, war während der prä-privat-fernsehens-zeit ein gerngesehener familienkonsens. Karlo bin ich jedenfalls auf dem weg von der jobstelle zur u-bahn begegnet. ein wenig begangener spazierpfad der alster. carlo von tiedemann mag ein windiger typ sein, ich mag ihn unabhängig davon. nun denn,,,, es gibt es diesen merkwürdigen drang, menschen, denen man auf weiter flur begegnet, einen wohlwollenden gruß zuzuwerfen. hey, du bist ja auch hier. wo sonst keiner ist! - das ist spaziergängersolidarität. wir grüßen uns also mit gesenkenten köpfen. und ich bin mir beinahe sicher, dass carlo mir zugezwinkert hat. einen hund hatte er auch dabei.

  5. #5
    Member Avatar von mart
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    verzeihe ihr pardon. noch eine geschichte, die heikeles antwort hochgewühlt hat: ich kann überhaupt nicht malen, habe aber durch irgendeinen perfiden zufall, einen malwettbewerb meiner orientierungsstufe gewonnen. heute wäre das sehr hip, denn es hieß 'hamburg-yokohama'. hamburger bebildern ihre stadt und yokohamererer die ihrige. ich war nicht auf den zweiten platz vorbereitet! mein als kunstunterrichtsspassleichenbild geplantes machwerk zeigte die köhlbrandbrücke und einige docks. ein bleisitftmachwerk mit einigen strichmännchen, die sich gegenseitig umbringen. mit diesem ominösen bild habe ich platz zwei gewonnen und ward auf eine preisverleihung im rathaus eingeladen, wo klaus von dohnahni/Y sich publikumsträchtig mit uns kunstschaffenden kindern unterhielt. sehr gruselig natürlich, wenn man schüchtern ist und als die photographenrunde zu meinem bild kam, analysierte klaus knallhart, dass meine karriere als technischer zeichner vorgeplant sei. gewonnen habe ich am ende einen casiotaschenrechner, der gleichzeitig ein minimalmusikinstrument ist. den hat jetzt mein neffe.

  6. #6
    Embedded Senator Avatar von DerCaptain
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    Mart, köstlich!
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  7. #7
    Moderator Avatar von Ruebenkraut
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    Und? Ist aus dir ein technischer Zeichner geworden? Dann wäre Dohnanyi ja so eine Art Kollege von Angeli.

  8. #8
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    Ich hab nie so recht begreifen können, warum man sich Autogramme geben lässt, aber wenn Du Dir ein Autogramm hättest geben lassen wollen, und dieser Nobel- Mann, der im Schützengraben Goethe liest, Dir eins hätte geben wollen, trotz der Widrigkeiten, und weit und breit kein Stift aufzustellen wäre, hätte er ja seine blutende Nase als Füllfederhalter zweckentfremden können.

  9. #9
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    das ist es was ich mir unter 'das nutzlose mit dem unangenehmen verbinden' vorstelle.

  10. #10
    Moderator Avatar von Ruebenkraut
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    Angelika bringt es auf den Punkt - selten so geschmunzelt.

  11. #11
    Sir Avatar von yellowshark
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    Mein Bekannter Christian kannte durch seinen Job als Kamerahilfe bei „Dalli Dalli“ flüchtig ein paar Prominente. Vor Längerem gingen wir durch Dortmunds Innenstadt, als ihn, „Hey, Chris!“, der uns entgegen kommende „König der guten Laune“, Carlo von Tiedemann, anstrahlte, „du, sag mal, wie bist du zur Zeit denn so rauchtechnisch organisiert?“. „Gar nicht“, sagte Christian, und im Weitergehen zu mir, dass er es hasse, wenn man ihn „Chris“ nenne.
    ys

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