Ich weiß nicht, ob Mario Luzi hierzulande prominent ist. Eins ist er bestimmt: einer der großen Lyriker des 20. Jahrhunderts. 1914 in Florenz geboren, veröffentlichte er 1935 seinen ersten Gedichtband, „La barca“, ein zentrales Werk der hermetischen Dichtung. Seitdem ist er in Italien bis in die 90er Jahre mit Lyrik, Theaterstücken, Essays und Übersetzungen (Shakespeare, Coleridge) präsent geblieben. Ausgangspunkte seiner Lyrik sind Orphismus, Surrealismus und die Dichtungen Mallarmés und Eliots. Mehr läßt sich in Kürze über sein vielschichtiges Werk kaum sagen – um das es hier ja auch nicht geht.
I
Es war im Sommer 1985. Ich studierte im zweiten oder dritten Semester Romanistik und absolvierte einen einmonatigen italienischen Sprach- und Literaturkurs in Urbino. In der letzten Woche wollte uns der Kursleiter etwas Gutes tun und lud uns zu einer abendlichen Lesung von Gedichten Giuseppe Ungarettis ein. Begeistert war ich nicht, das kleine Urbino und der Kurs und alles andere ging mir nur noch auf die Nerven, aber da die meisten von uns hinwanderten, latschte ich mit.
Das Ereignis fand in einem Keller statt, mit Stühlen für rund 60 Menschen. An einem Tisch vorne saßen ein professoraler Herr mit Brille und eine Frau mit schwarzem Vogelnest auf dem Kopf. Ich entschied, daß sie für ihr Alter zu stark geschminkt war. Neben dem Tisch stand ein leeres Pult. Die Dame krächzte eine Begrüßung, worauf ihr Nebenmann einige Gedichte des Meisters las. Ich überlegte, ob ich unauffällig verschwinden und irgendwo eine Pizza verdrücken sollte.
Plötzlich warf die Alte die Arme hoch und unterbrach den Rezitator, indem sie einen Kreischer ließ, der sich etwa wie „ecco il mio amico“ anhörte. Ein einfach gekleideter Mann mit grauen Haaren schritt auf das Pult zu und stellte sich dahinter auf. Schien etwas Besonderes zu sein, jedenfalls war von dem „Professor“ fortan kein Wort mehr zu hören. Ich fragte meinen Sitznachbarn, einen Dicken mit Halbglatze, ob er den Typ kenne, der soeben reingeplatzt war. Er pochte auf einen hellgrün gebundenen Lyrikband auf seinen Knien: der sei es. Ich las: Mario Luzi. Der Name sagte mir nichts. Ich grunzte dankend und ließ mich in den Stuhl zurücksinken.
Der Neuankömmling berichtete über seine persönliche Bekanntschaft mit Ungaretti, dem er als Schriftsteller, wie mir später klarwurde, verwandt war. Was er erzählte, weiß ich nicht mehr. Aber seine Stimme ist mir noch im Gedächtnis. Sehr weich, ruhig, modulierend, und gerade durch ihren leisen Klang eindringlich. Ich war wider Willen beeindruckt, obwohl ich ihn, wie gesagt, nicht kannte, also auch nicht ahnte, daß er zu jenem Zeitpunkt schon seit 50 Jahren publizierte.
Dennoch war er mir wegen seines ungeschickten Eindringens mitten in die Lesung unsympathisch. Was er nach Ende der Vorstellung eventuell noch zu sagen hatte, hörte ich nicht mehr, ich hatte Hunger.
II
Wenn das alles gewesen wäre, glaube ich nicht, daß ich mir wegen Mario Luzis Dichtungen nennenswerte Auslagen gemacht hätte. Vielleicht wäre mir nicht einmal sein Name im Gedächtnis geblieben.
Aber es kam anders. An meinem letzten Tag in Urbino sah ich ihn unerwartet noch einmal. Der Kurs war zu Ende, die Abreise nach Karlsruhe stand unmittelbar bevor, meine Koffer waren schon im Schließfach. Da ich bis zur Abfahrt ein paar Stunden Zeit hatte, schlenderte ich noch einmal durch den Ort. Ich befand mich an jenem Vormittag in einer merkwürdigen Hochstimmung, wie immer, wenn ein mehrwöchiger Aufenthalt in einer fremden Stadt zu Ende geht. Die letzten Stunden verbringe ich mit einem Gefühl seltsamer Leichtigkeit, als könnte mich so kurz vor der Trennung nichts Unangenehmes mehr berühren, als wäre meine Anwesenheit schon Erinnerung.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemerkte ich Mario Luzi, wie er sich durch die Menge schob, offenbar allein. Er trug denselben hellbraunen Pullover wie bei der Lesung. Keiner nahm Notiz von ihm. Meine Stimmung, die nun viel besser war als bei der Lesung, die freundliche Wärme, die das Bewußtsein der kurz bevorstehenden Abreise in mir ausgelöst hatte, bewirkten, daß ich Luzi jetzt ganz anders wahrnahm. Seine unscheinbare Erscheinung, sein Getrenntsein von dem, was um ihn war, machten ihn mir mit einemmal sympathisch. Jetzt war er nicht mehr der anerkannte Autor, der vor einem bewundernden Publikum sprach; nur ein alter Mann, in dem niemand etwas Besonderes sah. Dennoch trug er eine Welt in sich, eine lange Erfahrung mit Worten, von der die Menschen, die ihm begegneten, nichts ahnten.
Mag sein, daß ich in diesem Moment nur meine Klischeevorstellungen von dem, was ein Lyriker zu sein hat, auf Luzi projizierte. Aber diese zweite, so flüchtige und ganz kurze Begegnung – wenn man es überhaupt so nennen kann - hat für mich alles verändert. Nach meiner Rückkehr verschaffte ich mir nach und nach seine Gedichtbände, las sie und lese sie heute noch.
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