Peel, John (Penis-Piercing)
Beim Penis-Piercing mit John Peel
1983 kam ich mit Anfang 20 nach Berlin zum Studieren. Es gab noch besetzte Häuser. Es gab noch Punks. Es war die Zeit, in der man schwarze Lederjacken trug. In denen die Kneipen sich weiß tünchten und Neonröhren statt Lampen hinhängten. Es gab noch Ofenheizungen (vor allem im Osten, wo man kaum mal hinkam, aber auch in Wedding, Kreuzberg, Neukölln), die regelmäßig winters für Smog sorgten.
Ich geriet wohnungsmäßig in den Wedding (die Berliner sagen „auf`m Wedding“, was ich aber nie verstanden habe). Das war nicht gerade der angesagteste Bezirk. War jedenfalls nicht Kreuzberg, wo alle wohnen wollten. Aber es war auch nicht Neukölln.
Für die Pankehallen im dunkelsten und hintersten Eck vom Wedding (zur Info für die Neuberliner hier im Forum, die inzwischen abgerissenen Pankehallen standen etwa da, wo sich Osloer Straße und Panke kreuzen, östlich der Koloniestraße) kündigt sich im Dezember 1983 das „Berlin Atonal“ an. Die Backstein-Fabrikhallen, die tatsächlich noch beinahe im Urzustand vor sich hingammelten und schimmelten, waren das ideale Abiente für Industrial-Schrott Musik, Postpunkmucke. Musik, die nur vom König der Radiomoderatoren, John Peel, in seiner wöchentlichen Show auf BFBS und BBC regelmäßig gespielt wurde, da andere Sender ungern über 90 % ihre Hörerschaft vergraulen. Und wer so etwas hörte und dabei cool Zustimmung nickte, der gehörte dazu. Ich wollte dazu gehören.
Atonal, das war die Zukunft. Und die Weddinger Szene war stolz darauf, die Kreuzberger ausgestochen zu haben (spätere Berlin Atonals fanden im SO 36 in der Oranienstraße statt).
Am Abend des Atonal Festivals, ein regnerischer, scheißkalter Dezemberabend, versinkt auf dem Vorplatz die Schlange der Einlass Begehrenden langsam im Matsch, während von
drinnen schon reichlich Atonales aus der Konserve kracht. Düsternis unterbrochen von Stroboskoplichtgeblitze.
Kurzfristig werde ich für den Einlass rekrutiert. Stempel auf Handrücken und Arme drücken. Natürlich will jeder bei einem Tagespreis von 12 DM mit einem Pfund bezahlen. Schon als ich hinkomme, gibt es kein Hartgeld mehr. Die draußen im Regen murrende Schlange wird länger und länger, an der Tür beginnt ein großes Geschiebe und Gedränge. Kurz vor der Explosion kommt endlich der Typ mit dem Silbergeld.
Gleich am Anfang entfacht eine Band ein ungewolltes Feuerwerk auf der Bühne. Es droht der Abbruch der Veranstaltung, doch die Feuerwehr sieht wohl ein, dass man die Szene, die sich hier versammelt hat, nicht einfach rausschmeißen kann. Und es ist ja auch nix passiert.
Die Sängerin einer Band lässt sich nackt auf ein Metallrost fesseln, das an einem Drehgestell befestigt ist. Sie wird in die Vertikale und kopfunter gedreht und röchelt in dieser Position Liedtext in das zwischen ihren Brüsten mit Paketklebeband befestigte Mikro. Freundlicher Applaus.
Im Nebenraum ist eine Waschmaschinentrommel einschließlich Motor aus ihrer Hülle befreit worden. In die rotierende Trommel werden von Männern in weißen Overalls Gegenstände geworfen und dazu passend unrhythmisch geschrieen. Einige bleiben stehen und wippen mit den Füßen. Die anderen drängeln vorbei zum Bierstand im nächsten Raum.
Höhepunkt des Abends ist der Auftritt von „Psychic TV“: Während der Sänger atonal das Mikro bearbeitet, wird an die graue Hallenwand hinter seinem Rücken überlebensgroß ein Dokufilm projiziert, der in Nahaufnahme eine Operation zeigt: Hände, Instrumente, Blut, ein Ring, ein Penis, alles in Handkamera-Wackeloptik, Zeitlupe, untermalt von dem Live-Gebrüll des Operierten. Der Mann lässt sich einen Ring durch die Eichel ziehen. Das Wort „piercen“ gehört 1983 noch nicht zum Wortschatz, der ganze Vorgang ist so „unerhört“, dass ich beinahe vergesse, das mir schon angewöhnte Berliner-Neustudent-Coolness-Gesicht aufrecht zu erhalten.
Im Publikum, vergleichsweise unpassend gekleidet, äußerlich ungerührt vom Bühnengeschehen, einer der alles schon gehört hat, er steht plötzlich neben mir und ich wundere mich ein bisschen über diesen Mann, der so gar nicht szenemäßig
drauf ist. Ein Freund deutet auf ihn und schreit mir ins Ohr: DAS IST JOHN PEEL!. Ich muss verständnislos geglotzt haben, denn er wiederholt es, mit leicht genervtem Unterton: Kennst Du nicht? John Peel! Klar kenne ich John Peel - aber doch aus dem Radio, nicht von Angesicht.
Es ist John Peel.
Sieht ein bisschen so aus wie Umberto Eco, der gute.