-
Es war einer jener Abende. Hamburger haben für diesen Dauerzustand zwischen November und Sonnenwiederaufgang eine Menge Begriffe, darunter sogar so beschönigende wie Herbst und Winter. Das Wetter wird in dieser Zeit von Èerhöhter LuftfeuchtigkeitÇ geprägt. Wer als Fremder die Worte ÈkaltÇ oder ÈungemütlichÇ in den Mund nimmt, bekommt gebetsmühlenartig zu hören, dass es kein schlechtes Wetter, sondern nur schlechte Kleidung gebe. Aber so sind sie, die Hamburger. Sie sagen auch gerne Thalia mit Betonung auf der ersten Silbe. Sie wählen Schill. Sie schütten Naturschutzflächen zu. Im Grunde muss man ihnen ständig verzeihen. Aber egal. Es war also einer jener Abende, an denen die allgemeine Stimmung die Farbe und den Geruch der Alster annimmt: schwarzgrün mit einem Hauch Abschied für immer. Es war einmal vor etwa acht Jahren.
Wie ein Leuchtfeuer überstrahlte damals ein Termin alle anderen im Veranstaltungskalender der Stadt: Uraufführung von ÈAlice im WunderlandÇ, Musik Tom Waits, Regie Bob Wilson, Ort das Thalia-Theater. Wer etwas darstellte in Hamburg, hatte sich längst eine Karte von Rang organisiert. Wer noch etwas werden wollte in Hamburg, hatte sich irgendwo rechtzeitig eine Rest-Karte bestellt. Wer wie ich einfach nur naiv war, stand als Gliedmaß eines düsteren Tausendfüßlers im Foyer, beobachtete den vorbeifließenden Strom der Glücklichen und hoffte auf ein Wunder, genauer gesagt auf die Rest-Rest-Karten.
Fortsetzung folgt
(Beitrag wurde von Goodwill am 28.09.2001 um 15:31 Uhr bearbeitet.)
-
Besonders pfiffige Na•ve drängelten sich vor an die Kassen-Glaskästen und behaupteten, sie hätten unter dem Namen Meier, Müller, Schmidt oder so zwei Karten reservieren lassen. Besonders Verzweifelte versuchten es mit einer kleinen Show für die Damen im Kabuff, die ganz cool anfing, in vermeintliches Erstaunen mündete (ÈDas kann nur ein Irrtum sein. Ich habe reserviert. Schaun Sie bitte nochmal nach.Ç) und mit gespielter, lauter Indignation endete. Manche bettelten in großem Stil sämtliche Kartenbesitzer an. Das waren die besonders Würdelosen.
Am Rande des Trubels hatte scheinbar ein kleiner Junge Posten auf einem Treppenabsatz bezogen. Die Arme hinter dem Rücken, die grauen Haare und den Bart etwas zerstrubbelt, die Streber-Brille immer wieder zurechtschiebend, das wundersam alte Gesicht mal in Sorgenfalten legend, mal verschmitzt. Von der Körperhaltung erinnerte er an einen Zirkusdirektor. Hin und wieder begrüßte er Persönlichkeiten, wippte ansonsten nervös auf den Zehen.
Fortsetzung folgt
-
Das erste Klingeln schrillte durch Mark und Bein. Alles ging nun einen Schritt schneller. Die besonders Mutlosen verzogen sich jetzt bereits, um den Abend mit schmerzverzerrten Gesichtern an irgendeiner Theke ausklingen zu lassen und dazu an einem schalen Bier zu nippen. Die Kassen-Damen hinter ihrem Panzerglas waren in einen Zustand des Dauerkopfschüttelns verfallen. Trotzdem: Nach kurzer Irritation formierte sich der Rest-Tausendfüßler neu. Noch keilförmiger, noch dichter.
Dann das zweite Klingeln.
Die Nachzügler aus der Hanse-Hautevolee pellten sich jetzt bereits auf der Treppe aus ihren Mänteln, entwickelten hektisch ihre Gold- und Krawatten-Hälse und hatten nur noch ein Ziel: möglichst schnell die Schals samt Peek&Cloppenburg an der richtigen Garderobe abgeben. Der Zirkusdirektor im Wollpulli nickte von seiner erhöhten Warte bedeutungsvoll in Richtung der Damen hinter Glas. Die nickten zurück und begannen eine Art Auktion. ÈEine Parkett zu sechzigÇ, Èeine Rang links zu vierzigÇ. Sofort schnellten braune und blaue Scheine durch den Schlitz. Nachdem die Damen der inzwischen zur Meute gewordenen Schlange mit ihren Fingerspitzen etwa sechs rosarote Karten ausgehändigt hatten, verschanzten sie sich schnell hinter blickdichten Vorhängen. Die Verzweiflung im Foyyer machte sich mit einem Ächzen Luft.
Fortsetzung folgt
-
Das dritte Klingeln spülte alle verbliebenen Realisten aus dem Theater. Es war ganz plötzlich einsam geworden um den traurigen Rest. Und still. Alles deutete darauf hin, dass es nun doch einer jener normalen Hamburger Abende werden würde.
Ein Fähnlein von sieben hielt trotzdem die Stellung. Einfach so, vielleicht auch aus Trägheit. ÈWas ist mit Ihnen?Ç, fragte der Mann im Pulli. Er schien aus dem Nichts zu kommen. Er walkte seinen Strubbelbart. Vermutlich, um hinter der Hand sein Lächeln zu verstecken. ÈWollen Sie wirklich noch rein?Ç Vereinzelte erstaunte Ja-Rufe. Aus dem tiefsten Inneren des Gebäudes brandete ein erster Applaus. ÈDann aber schnell. Mir nach!Ç Er drehte sich um, machte mit dem Arm eine Zum-Angriff-Bewegung und stürmte die große rote Treppe hinauf.
Fortsetzung folgt
-
Oben drehte er sich um und sprach zu uns, den hartnäckigen Sieben: ÈDass das klar ist: Ich will heute tosenden Applaus hören. Und Sie sind mir dafür verantwortlich.Ç Die Türschließer drehten schon erste Zigaretten, als wir ein paar Treppen später recht atemlos den Rang erreichten. Von drinnen quäkte eine Waitssche Ouvertüre. Mit knappen Gesten teilte Flimm uns in Mini-Gruppen, signalisierte den Aufpassern, dass sie sich weiter mit Nichtstun beschäftigen könnten und bugsierte uns einzeln mit Schulterklopfen ins brausende Dunkel.
Ich weiß noch, dass mir sofort die Brille beschlug, dass ich mich einfach auf den Boden setzte, dass ich mich riesig fühlte, dass mich die Aufführung komplett platt machte. Wie die heiße Musik die kalte Bildästhetik schräg zersägte. Die Kostüme, die Schauspieler, das Licht. Es gab Ritter, Hasen, Riesen. Alles. Erster Applaus. Ich erinnere mich an die Zugabe, zu der Tom Waits aus dem Parkett ans Dirigentenpult turnte; wie er rumbrüllte, wie er mit dem Taktstock fast einen Geiger erstach, dessen Geige aus einem Tropetentrichter bestand. Ich weiß noch, wie extrem gut durchblutet meine Hände danach waren.
Ich bin sicher, dass ich an diesem Abend zu den besonders Glücklichen gehörte.
-
Stimmt, so sind sie, die Hamburger. Und der Rest der Geschichte ist auch sehr schön!
-
-
Die Geige heisst 'stumme Geige', weil sie besonders laut ist, soeine hätte ich mir mal kaufen wollen, am nächsten Tag war sie weg.
Spannende Geschichte, Goodwill, und sie gewinnt noch durch die Fortsetzung-folgt-Werbeunterbrechungen. Hast Du das aus dramaturgischen Gründen gemacht, oder weil Dir der Text immer wegflutscht?
Wolfgang Müller hat auch mal eine ganz lange Geschichte geschrieben, und als er sie abschicken wollte, war sie weg
-
Danke für diese zauberhafte Geschichte, Goodwill!
----------------------------------------
Der beste Ort ist der Bauch eines Theaters
-
Sehr lebendig und unbedingt nachvollziehbar! Würde man Hamburg durch Frankfurt ersetzen und 'Uraufführung von Alice im Wunderland' durch 'William Forsythe Premiere' wären das Ambiente, sowie das in den ersten dreieinhalb Teilen der Geschichte beschriebene Ritual annähernd gleich. Will sagen: fühle mich in der Geschichte zu Hause.
-
applaudiert, bis ihr die Hände wehtun
-
Goodwill, genauso ist es im Theater! Da hat man alles gegeben und doch keine Karte, und dann überlegt man, ob man sich wirklich noch fertiger machen soll und weiter rumstehen und dann steht man halt weiter rum und dann passieren - sehr selten - doch noch Zeichen und Wunder! Der Flimm scheint ein klasse Typ zu sein. Und klasse beschrieben das alles.