Kempowski, Walter, betrügt mich mit Susanne
Eigentlich müsste es heißen: Susanne betrügt mich mit Kempowski. Wenn Susanne einmal prominent wird, werde ich den Titel zu ihren Gunsten ändern.
Susanne und ich waren 14 Jahre alt und besuchten die selbe Klasse. Bücher und Bach waren unsere gemeinsamen Themen. Pferde und Küssen dagegen interessierte sie nicht.
Nach einer Lesung des von uns verehrten Walter Kempowski stellten wir uns am Signiertisch an, erhielten hübsche Widmungen in unsere Taschenbücher, die Frage, ob wir alt genug für seine Literaturseminare seien, wurde vom Meister positiv beschieden. Seine Adresse laute Kreienhoop Nartum, wir mögen ihm schreiben.
Es entspann sich ein keuscher Briefwechsel, und Anfang Januar 1983 fuhren wir für fünf Tage zum Seminar nach Nartum, von der Schule beurlaubt. Den 55 Teilnehmern stand Kempowskis Haus von morgens bis abends offen. Schreibende Hausfrauen. Germanistikstudenten. Pensionäre. Künstlerinnen. Journalisten. Mittags lungerten wir im Haus herum, das Essen im Gasthaus war nicht vom Taschengeld gedeckt. Wir saßen auf Kempowskis Teppich und lasen Kempowskis Bücher – die ihm gehörenden, nicht die von ihm geschriebenen, die kannten wir auswendig. Einmal störte ich den Hausherrn mit Beethoven beim Mittagsschlaf. Ich bekam einen Rüffel, der sich nicht nur auf den Zeitpunkt, sondern auch auf die Qualität meines Klavierspiels bezog. Das fühlt sich noch heute peinlich an. Am Abend rehabilitierte ich mich mit meiner Kenntnis aller Strophen von „Der Mond ist aufgegangen“. Als ich einmal auf einer Treppenstufe sitzend meinem Tagebuch allerlei pubertäre Redundanzen anvertraute, unterwies mich Herr Kempowski im rechten Tagebuchschreiben: Was habe ich geträumt, was habe ich im Fernsehen gesehen, was habe ich gelesen, gegessen...
Mit Susanne traf ich mich bis zum Abitur bei Goethe, Thomas Mann und Uwe Johnson, wir blieben uns in Gefühlsdingen fern. Ich fuhr 1985 noch einmal mit einem Freund zu Kempowski nach Nartum, spielte am bunten Abschiedsabend zur Zufriedenheit Debussy und verliebte mich vergeblich in seine Tochter Renate.
Das alles war sehr lang her, „Schöne Aussicht“ hatte ich nicht mehr zuende gelesen, mich über „Hundstage“ ein wenig geärgert, Susanne nach 1990 nur noch zu ihrer Hochzeit gesehen und Renate nach meinem 17. Geburtstag gar nicht mehr.
1997 kaufte ich aus Nostalgie Kempowskis „Sirius“, Untertitel: „Eine Art Tagebuch“, spielt im Jahr 1983. T für Traum, TV für Fernsehen, Lit für das Gelesene. Ich war schon auf Seite 20 beleidigt: „...deutsche Volkslieder kennen sie nicht“, schreibt er da über die „resche Jugend“ des Januar-Seminars. Und der Mond? Romantik. Trotzdem.
30. November 1983 „Am Nachmittag war ich dann in Bonn bei meinem kleinen Sternchen“, lese ich auf Seite 583.. „Susanne hat sich schon ganz furchtbar gefreut. Kaffee und Kuchen“.
Scheiße.
Das hat sie mir nicht gesagt.
Das hätte sie mir doch sagen müssen.
Wir waren doch Freundinnen.
Maile ihr noch einmal. „Sirius gelesen. Gewundert.“
Und dann nicht mehr.