Kohl, Helmut (wartet auf irgend etwas)
1. Mai in Berlin, 18.55 Uhr. Während sich Kreuzberg auf sein alljährliches Steinewerferfestival vorbereitet, ist ein paar Kilometer weiter westlich, in Tiergarten, alles ruhig. Auf den Straßen sind kaum Autos unterwegs, vereinzelt bummeln Spaziergänger Hand in Hand durch den Frühling. Alle paar Minuten rauschen ein paar Polizeiwannen über die Straßen. Der Staat zeigt Präsenz.
An der Kreuzung John-Foster-Dulles-Allee/Spreeweg steht ein schwarzer Mercedes. Neue S-Klasse. Kennzeichen: B-BA 80. Der Fahrer hat miserabel eingeparkt. Das Auto steht viel zu weit vom Bordstein entfernt. Im Innern der auffälligen Limousine sind schon von weitem schemenhaft zwei Figuren erkennbar. Ein Fahrer und ein Beifahrer. Während der Fahrer über als normal zu bezeichnende Ausmaße verfügt, ist die Gestalt des Beifahrers mindestens doppelt so voluminös. Fast scheint es, als hänge die schwere Karosse auf der rechten Seite sogar etwas mehr durch als auf der Fahrerseite. Und dann, plötzlich, ist er zu erkennen. ER ist es. Dick. Gewaltig. Rund. Der Kanzler. Der Altkanzler. Unser Dr. Helmut Kohl. Sitzt auf dem Beifahrersitz dieser S-Klasse und scheint auf etwas zu warten.
Nun muss man wissen, dass es sich beim wenige Meter entfernten Gebäude im Spreeweg 1 um kein gewöhnliches Mietshaus handelt, sondern um das Schloss Bellevue, den Amtssitz unseres Bundespräsidenten. Und hier sitzt also der Altkanzler in einem schlecht geparkten Mercedes direkt vor dem Schloss. Und wartet. Hat er einen Termin bei Johannes Rau? Vielleicht war Kohls Chauffeur zu schnell unterwegs und Kohl sagte: "Wir sind 5 Minuten zu früh. Ich will jetzt noch nicht klingeln. Vielleicht ist Rau gerade auf dem Klo. Er erwartet mich schließlich erst um Punkt 19 Uhr."
Der Altkanzler bewegt sich nicht. Was will er beim Bundespräsidenten? An einem Feiertag? Und warum hat Kohl eigentlich immer noch einen Chauffeur? Ist der Bestandteil seiner Kanzlerrente? Warum bewegt er sich denn nicht? Der Fahrer sitzt auch nur da und schaut gelangweilt in die Ferne. Gespenstisch. Im Schloss rührt sich nichts. Da plötzlich dreht sich der Dicke um. Und stiert uns an. Wir tun so, als hätten wir ihn nicht gesehen und gehen schnell weiter.
