Don't Follow Leaders (Mit Bob Dylan am Autobahn-Urinal)
Ich weiß, viele behaupten von sich, neben Dylan am Autobahn-Urinal gestanden zu haben. Doch keiner von denen kann das beweisen!
Kurz nach Mitternacht auf der A2 Richtung Hannover. Ich parke den Wagen vor einer grell erleuchteten, fast menschenleeren Autobahnraststätte, kurz hinter Magdeburg. Der Kaffee, den ich in Berlin getrunken habe, drückt seit achtzig Kilometern auf die Blase. Mit steigender Tendenz.
Der Zugang in den Türkis gehaltenen Toilettenbereich ist durch ein metallenes Drehkreuz gesichert. Fünfzig Cent oder Sie nehmen gepflegt die Büsche hinter der Tankstelle. Ich zupfe Kleingeld aus der Hosentasche. Es gibt zwei Eingänge. Der linke ist defekt, vor dem rechten steht ein Mann. Ein alter Mann in etwas eigenwilliger Haute Couture. Er trägt ein fleckiges, ockerfarbenes Sweatshirt, dessen Kapuze über den Kopf gezogen ist, dunkelblaue Hosen mit goldenen Streifen und irgendwie silbrig glänzende Slipper, die ein ziemlicher Kontrast zu der leicht verwahrlosten Erscheinung sind. Ich warte, dass er reingeht – was er nicht tut. Er steht da und betrachtet das Drehkreuz, als ob er es durch pure Geisteskraft in Bewegung setzen könne. Allmählich wird’s eng.
„Entschuldigung.“
Erschrocken dreht er sich um. Sein Gesicht ist bleich und sieht aus, als habe er darin mit einer Horde brandschatzender Vandalen eine Kissenschlacht veranstaltet.
„Wollen Sie rein?“
Er mustert mich. Stumm. Dann macht er den Weg frei. Ich werfe einen Fünfziger in den Schlitz, ziehe meine Karte und gehe durch. Verdammt! Mein schlechtes Gewissen klopft auf die Schulter. Ich bleibe stehen und drehe mich um. Der Alte hat sich nicht bewegt. Er schaut mich an, als sei ich ein Zauberkünstler, oder sowas. Von seinem ganzen Erscheinungsbild her würde ich ihn für einen Obdachlosen halten. Ich seufze. Auch Penner müssen pinkeln dürfen. Ich finde einen weiteren Fünfziger und fordere ihn auf, durchzugehen. Er starrt mich ausdruckslos an.
„Kommen Sie schon“, sage ich. „Die Runde geht auf mich.“
Er zuckt mit den Schultern.
Dann habe ich so etwas wie eine Erleuchtung. „Come in, Mister.“ Jetzt nickt er, räuspert sich, tritt durch das Drehkreuz, wirft mir einen undefinierbaren Blick zu und knurrt: “Thanks, Man.” Seine Stimme ist genauso zerbeult wie sein Gesicht, irgendwie rostig. Zu viele Zigaretten, zu viel Whiskey, zu viel Weiß-der-Teufel-was.
Wortlos stehen wir nebeneinander an den Pinkelbecken und tun das, was Männer gelegentlich tun müssen. Selbst die Größten unter uns. Beim Händewaschen mustere ich meinen seltsamen Gast von der Seite. Er ist nicht besonders groß und von schmächtiger Gestalt. Er hat eine ziemlich imposante Nase und einen Wust grau gesprenkelter Locken, die wild wuchernd unter der Kapuze hervorquellen. Seine Hände sind klein, die Fingernägel teils kurzgeschnitten, teils lang wie Krallen. Ich vermute, dass er Gitarrenspieler ist.
„Wo kommen Sie her?“, frage ich auf Englisch.
Er scheint über die Antwort nachdenken zu müssen, während er ein Papierhandtuch nach dem anderen aus dem Spender zieht. „Texas“, sagt er nach einer Weile. Ich warte, doch es kommt nicht mehr. Ziemlich schweigsam, der Typ.
„Texas. Schön. Ich war mal in Texas. Vor Jahren allerdings. - Machen Sie Urlaub hier?“
Nachdenken. Papiertücher. „Nein.“
„Geschäftlich?“
„Ja.“
„Sie sind Musiker, oder?“
Der Blick flackert unruhig.
Ich deute auf die Hände. „Hab früher auch Gitarre gespielt.“
Er betrachtet seine Finger. Irgendwie irritiert von der Tatsache, dass er Finger hat.
„Welche Art von Musik spielen Sie? Rock? Jazz?“
Eine Frage, deren Antwort sorgfältig abgewogen sein will. Er schüttelt den Kopf. „Polka.“
„Was? Polka?“
„Ja“, sagt er. „Texanische Polka.“
„Ich wusste nicht, dass es sowas gibt.“
Nachdenken. „Es gibt viele…“ (Zögern.) „…Rumänen in Texas. Texanisch-rumänische Polkamusik. Sehr beliebt, äh, bei manchen.“
Während wir uns unterhalten, haben wir den Toilettenbereich verlassen und stehen nun vor dem Kaffeeautomaten. Der Rumäne starrt ihn an, wie er das zuvor mit dem Drehkreuz getan hat. Na gut, ist jetzt auch schon egal. „Mögen Sie einen Becher?“
Zu meiner Überraschung zückt er einen Hundertdollarschein. „Hab kein verdammtes deutsches Geld.“
Ich winke ab, füttere den Automaten und reiche ihm seinen Kaffee.
„Danke, Mann.“
Während wir dastehen und die heiße Brühe schlürfen, öffnet sich die Glastür und zwei Männer treten ein, die aussehen, als ob sie in ihrer Jugend viel Zeit beim Boxen mit Berggorillas verbracht hätten. Ihre Blicke irren durch den Raum. Als sie den Rumänen und mich erfassen, erstarren die Gesichter und die schaufelgroßen Hände ballen sich konvulsivisch zu Fäusten.
„Äh, sind das…Freunde von Ihnen?“
Der Rumäne hebt nur kurz den Blick und zuckt, wie nicht anders zu erwarten, mit den Schultern. „Ja“, bequemt er sich zu antworten. „Freunde.“
„Spielen die in Ihrer Polka-Band?“
„Nein.“ (Intensives Grübeln.) „Die verscheuchen die Fliegen.“
Ich denke, es macht keinen Sinn, zu fragen, was er damit sagen will. Das Nachdenken würde definitiv zu lange dauern.
„Tja, ich muss dann mal los. War nett, mit Ihnen geplaudert zu haben.“
„Warten Sie.“ Er blickt sich um, zeigt auf die Papierservietten. „Kann ich eine haben?“ Die Dame hinter der Theke scheint nicht allzu begeistert. Sie ignoriert meinen Polkamann. Oder sie versteht kein Englisch.
„Er möchte eine Serviette.“ Sie lässt keine Zweifel daran, was sie von diesem Ansinnen hält, bequemt sich aber dennoch. Mit sehr spitzen Fingern.
„Und einen Stift“, sagt der Rumäne.
„Er braucht einen Kugelschreiber“ übersetze ich. Das bringt sie an die Grenzen ihrer Dienstleistungsbereitschaft.
„Brauch ich aber wieder“, knurrt sie.
„Keine Angst. Ich verbürge mich für ihn. Er ist Rumäne. Aus Texas. Texas in Amerika.“
Sie schaut mich an, als habe ich unbekömmliche Drogen konsumiert. „Aha.“
Mein nächtlicher Freund nimmt den Stift erst in die linke Hand, denkt darüber nach, und beschließt dann, dass es mit der rechten besser geht. Er kritzelt etwas auf die Papierserviette, faltet das Blatt zusammen und reicht es mir. „Das ist für Ihre, äh, Hilfe. Eben. Beim Pinkeln.“
Ich starre auf das Blatt Zellstoff in meiner Hand und weiß nicht recht, was er jetzt von mir erwartet. „Kein Problem. Hab ich gern getan. Wenn ich mal in Texas bin…“
„Ja“, sagt er. „Texas. Genau. Muss jetzt los.“
„Die Polka, wie?“
„Äh, stimmt. Polka.“ Er geht in Richtung der beiden Muskelmänner, stoppt nach ein paar Schritten, dreht sich um und zeigt auf die Serviette. „Das können Sie verkaufen, wenn Sie mögen. Es gibt Leute, die zahlen ’ne Menge Geld dafür. Hab ich jedenfalls gehört.“
„Aha.“
Er wendet sich ab und stakst seltsam steifbeinig in die Nacht hinaus. Die beiden Fliegenverscheucher behandeln ihn mit einer Ehrerbietung, als wäre er Don Vito Corleone persönlich. Die Tür schwingt zu. Er ist weg. Ich schüttle belustigt den Kopf. Ist schon außergewöhnlich, welche Typen einem nachts auf einer deutschen Autobahnraststätte begegnen. Ich falte die Serviette auseinander und lese, was dort geschrieben steht. Ich erstarre. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter.
„Hey, der Penner hat meinen Kugelschreiber geklaut“, ruft die Bedienung.
„Der Penner? Ach so, ja. Kein Grund zur Panik. Ich ersetze den Kugelschreiber. Kein Problem. Ich kann’s mir jetzt leisten.“
Thanks for assistance. Best wishes. Bob Dylan