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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Tippett, Keith (ohne Julie)



bonbini
08.09.2013, 19:06
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts betrieben wir einen selbstverwalteten Jazzclub in der ostwestfälischen Kleinstadt, in der ich damals lebte. Es war eine jener in Eigenarbeit zusammengezimmerten Lokalitäten, in denen es immer irgendwie schmuddelig war, obwohl der abendliche Thekendienst stets nach dem Abzug des letzten Gstes saugte und wischte. Irgendwie gelang es uns, trotz knapper Kasse, immer wieder mehr oder weniger bekannte Künstler zu bekommen, gerne auch aus dem Vereinigten Königreich, das wir damals unwissenderweise stets als England bezeichneten.

Einer dieser Künstler war der bereits schon damals legendäre Keith Tippett. Legendär nicht unbedingt wegen seiner Musik, die doch manchmal schon schwere Kost darstellte, sondern wegen seiner Ehefrau. Er war nämlich seit einiger Zeit mit Julie Driscoll verheiratet, die wir alle in den Armen Brian Augers gewähnt hatten, seitdem die beiden mit einer Coverversion von David Ackles' "Road to Cairo" die Hitparaden erobert hatten. Tippett rückte erst durch die Heirat mit ihr so wirklich in unser Bewusstsein, obwohl wir seinen Namen von Platten mit Soft Machine oder King Crimson kannten.

Das Konzert (ich kann mich nicht mehr erinnern, mit welcher seiner zahlreichen Formationen er damals auftrat), sollte nicht im Jazzclub stattfinden, sondern in einer größeren Halle. Am Nachmittag vor dem Auftritt erhielten wir die Nachricht, dass Tippetts E-Piano angeblich nicht angekommen war. Ich besaß zu jener Zeit zwar nicht viel, aber zumindest ein Fender Rhodes, denn ich träumte damals noch immer von einer Musikerkarriere.

Obwohl ich zu den Menschen gehöre, die grundsätzlich nichts verleihen (weil man die Dinge entweder gar nicht oder nur nach mehrfacher Mahnung oder beschädigt zurückerhält, speziell Bücher, die anschließend immer Falten, Knicke oder Spuren vom Fingerkuppenschweiß fremder Menschen aufweisen), zögerte ich in diesem Fall keine Sekunde. Ich setzte darauf, anschließend selbst mit goldenen Fingern über die Tasten fliegen zu können, in der irrigen Annahme, Tippets Talent werde sich irgendwie über seine Fingerspitzen auf die Tasten und von dort auf mich übertragen.

Wenn ich mich richtig erinnere, fuhren dann zwei Roadies mit zu meiner Wohnung, und wir schafften das Rhodes gemeinsam die zwei Stockwerke herab und zum Veranstaltungsort. Auf der Bühne wartete Tippett bereits, ein recht unprätentiöser Mensch, der sich vielmals bei mir für die Leihgabe bedankte, die britische Höflichkeit eben. Zur Belohnugn durfte ich dann der Bandprobe beiwohnen, und ich sah zum ersten Mal handschriftliche professionelle Notationen eines Musikers. Die Zettel waren nicht, so wie ich als klassischer Klavierschüler das kannte, mit Noten gefüllt, sondern mit allen möglichen Kürzeln, die wohl für bestimmte Akkorde standen. Für mich waren es Hieroglyphen, und wie Tippett daraus solche Klänge zaubern konnte, war mir ein Rätsel, aber ich nahm mir vor, es ihm nachzutun.

Während des Konzerts stand ich im Publikum und musste die ganze Zeit daran denken, dass der Mann da oben auf der Bühne auf MEINEM Piano spielte und ohne mich wahrscheinlich gar nicht hätte auftreten können. Das versäumte ich auch nicht, jedem mitzuteilen, der mir zu nah kam.

Nach dem Auftritt durfte ich dann noch einmal kurz mit Tippett reden, der nach wie vor extrem britisch freundlich war. Bedauert habe ich nur, dass Julie ihn nicht begleitet hatte, denn die war natürlich mehr Leuten bekannt. Wenn ich später erzählte, Keith Tippett habe auf meinem Piano gespielt, dann musste ich fast immer hinzufügen "Der Mann von Julie Driscoll". Da wäre es einfacher gewesen, ich hätte sie auch getroffen.

Das Rhodes wurde in derselben Nacht noch zurückgebracht, und ich habe es dann einige Tage überhaupt nicht angerührt, damit Tippetts Magie sich fest mit den Tasten verbinden konnte, was sie dann, aus einem mir unerfindlichen Grund, doch nicht getan hat.

Herr Weber
08.09.2013, 23:19
Sehr schön!

Pond
09.09.2013, 06:06
Finde ich auch.

kat-o
09.09.2013, 08:03
Die Geschichte macht mich an diesem regnerischen Morgen ganz glücklich.

Klingeltonk
09.09.2013, 08:27
Nicht nur Tippett, auch Tipptopp!

honz
09.09.2013, 14:29
Zwei Dinge die mich beschäftigen:

Was ist eigentlich Westfalen? Ist es der westliche Teil von Falen? Gibt es ein Ostfalen? Dann wäre Ostwestfalen ja redundant und irgendwo in der Mitte.

Für was war Julie Driscoll legendär? Ich habe von beiden noch nie gehört, was jetzt nichts heißen muss, aber ein wenig Zeit in solchen wie og Jazzkellern habe ich dann doch verbracht.

klesk
09.09.2013, 14:44
julie driscoll hatte die haare legendär schön, als sie noch mit auger (http://farm4.staticflickr.com/3200/3004510271_08de5b843c_z.jpg), mehr weiß ich leider auch nicht über sie.
schöne geschichte auch, herzlich willkommen.

elinor
09.09.2013, 15:02
Und Julie Driscoll hatte nicht nur die Haare schön (http://www.youtube.com/watch?v=UFowyLwVdYw&list=PL74C0E145ECFBE3B0)

Angelika Maisch
09.09.2013, 16:02
so was wollen wir hier lesen, Bonbini.

bonbini
09.09.2013, 17:19
Wie wir der Wikipedia entnehmen können, gab es Ostfalen in der Tat, getrennt von Westfalen durch das Herzogtum Engern, den etwas älteren Ostwestfalen heute noch bekannt durch die Ortschaft Enger und den ehemals dort beheimateten Musikkeller "Forum", in dem uns so wunderbare Bands wie die TV Personalities oder The Times beglückten. Selbst ein gewisser Herr Niedecken gab dort gegen drei Mark Eintritt verkölschte Dylanweisen zur akustischen Klampfe zum besten.

honz
09.09.2013, 17:19
Danke, aber was interessiert mich Gegoogeltes. Das kann ich doch und habe ich selber. Was interessiert ist doch das was aus sicht des autors als legendär galt. Google killed the paparazzistar

elinor
09.09.2013, 17:39
Honz, auf welchem Dampfer bist DU eigentlich gerade?

bonbini
09.09.2013, 17:43
Julie Driscoll war für uns eine der faszinierendsten Sängerinnen, sowohl wegen ihres Aussehens als auch wegen ihrer Stimme und der Songauswahl. Das war alles so ganz anders als das, was wir bislang kannten. Ich erinnere mich noch, wie mir ein Schauer über den Rücken rann, als ich das erste Mal im BFBS "This wheel's on fire" in der Version von ihr und Brian Auger hörte - bis heute unübertroffen, selbst der Meister kann (und konnte) es nicht besser. (Vielleicht nur noch Vanilla Fudge, wenn sie es denn aufgenommen hätten.)

Deshalb war Keith Tippett auch legendär, denn er war es, der es geschafft hatte, diese Frau, nach der wir uns verzehrten, zu der seinen zu machen. (Oder umgekehrt, wer weiß das schon.) Damit hatte er sich unsere Hochachtung verdient, mehr, als er sich durch seine Musik jemals hätte verdienen können.

Juri
09.09.2013, 17:51
Honz befindet sich auf einem Harry-Rowohlt-Dampfer (http://www.youtube.com/watch?v=8mfL_spC1fQ) (0:23-0:32), aber das weiß er bestimmt auch. 666!

elinor
09.09.2013, 17:56
(Julie D.s Version von This Wheel's On Fire (http://www.youtube.com/watch?v=K-LfTLrCs2M) war übrigens recht nahe an der des Meisters. The Mighty Quinn und All Around The Watchtower wurden, wie eben auch Wheel's On Fire, erst über die Cover Versionen berühmt, und kaum einer wusste, dass sie ursprünglich von Dylan waren, aber wohl auch deshalb, weil die Bootlegaufnahmen - "The Little White Wonder" - nur bei Eingeweihten die Runde machten.
Sorry fürs Eulentragen.)

knicklicht
09.09.2013, 21:29
Mir fällt diese Zeile noch heute als erstes ein, sobald "wheel" und "fire" zusammen in einem Satz vorkommen. Diese Frau, diese Stimme, diese Ansage. "If your memory serves you well", das hat mich damals so geschmissen, obwohl mich der weitere Zusammenhang mit meinem Schülerenglisch ("We were going to meet again and wait") völlig überforderte, aber das war mir egal. Wohin dieser Satz auch führte, irgendwie wollte ich da hin. This wheel shall explode. Genau.

joq
10.09.2013, 08:14
FORUM ENGER! TV PERSONALITIES! JA! I KNOW WHERE PAUL WELLER LIVES. COS HE WAS A HIPPIE, too.

Freewheelin_Biller
10.09.2013, 08:22
Erwähnenswert im Kontext der Westfalen-Diskussion vielleicht noch das Königreich Westphalen (mit -ph) mit Hauptstadt und Regierungssitz Kassel, das von Napoleon Bonaparte ins Leben gerufen wurde und von 1807 bis 1813 existierte. Als König setzte er seinen Bruder Jerome Bonaparte ein, der auf Schloß Wilhelmshöhe, damals natürlich umbenannt in Napoleonshöhe, residierte. Jerome entschied sich konsequent für Party und wurde vom Volk "König Lustik" genannt; "Schrohm" ist noch heute im Nordhessischen ein gängiger Begriff für Schürzenjäger. Joseph Bonaparte, ein Enkel aus seiner später annullierten ersten Ehe mit einer Amerikanerin, gründete ungefähr hundert Jahre später das FBI.