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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Hermlin, Andrej (kämpft mit dem Kragen seines Jacketts)



solea
08.08.2011, 00:30
Ostalgiker waren meine Eltern nie, und wenn meine Mutter auf den Sozialismus angesprochen ein lakonisches "Naja, einen Versuch war es wert" durch die Zähne zischt, dann empfinde ich das als ein halbwegs vertretbares Urteil. Außer Hammer, Zirkel und Ährenkranz in meiner Geburtsurkunde sowie meinem Impfpass verbindet mich als Spätgeborener zwar nicht viel mit der DDR, aber distanziert-ironischen Reminiszenzen an dieses untergegangene Reich lausche ich meist wohlwollend und ohne falsche Häme.

Es muss schon ein oder zwei Jahre her sein, dass mir beim Fernsehabend mit den Eltern ein Mann in einer Talkshow des RBB auffiel. Thema der Sendung war, na klar, die "Friedliche Revolution" im Ostblocks und wie 1989/90 der Wind der Veränderung dem gemeinen DDR-Bürger ins Gesicht wehte. Der Herr erschien adrett gekleidet, was aber alles andere als unfreundlich wirkte, und er erinnerte mich trotz seines akkurat nach hinten gekämmten Haars an einen Kosmonauten, womit im Sowjetsprech Astronauten bezeichnet wurden. "Ditt is' der Hermlin. Der Mann is' in Ordnung", raunte mein Vater und ich fand den Hermlin auch in Ordnung. Den genauen Inhalt seines Redebeitrags kann ich nicht mehr rekonstruieren, aber es hatte Hand und Fuß, was er von sich gab. Ich erfuhr erst hinterher, dass der Kosmonaut in Wirklichkeit Musiker ist und ein Swingorchester leitet.

Am vergangenen Freitag sitze ich in Prenzlauer Berg am Tisch eines Sushirestaurants und verbrenne mir mit Wasabi den Rachen. Neben dem Restaurant hält ein offenbar älteres Mercedes-Modell, das so aussieht als würde gleich ein steifer Bundesminister aus Zeiten der sozialliberalen Koalition aus dem Wagen steigen und von der RAF hingerichtet werden. Dem Automobil entschlüpft jedoch DDR-Realist und Die Linke-Mitglied Andrej Hermlin mit seinen zwei Kindern, die sogleich auf dem Boulevard herumtollen. Stürmischen Schrittes ermahnt er sie sanft und geht mit den beiden weiter in Richtung Kastanienallee. Auffällig ist, dass Hermlin anfangs mit hochgeklapptem Jackettkragen von dannen zieht. Um den Kragen in die vom Schneider intendierte Position zurückzubefördern, bleibt er einen kurzen Moment und sieht dabei nicht besonders souverän aus; als könnte die für sein Klavierspiel notwendige Fingerfertigkeit außerhalb ihrer gewöhnlichen Wirkungsstätte dem groben Pragmatismus des Alltags keine Paroli bieten. Doch Hermlin fängt sich, stellt seine optische Reputation wieder her und geht weiter. Als ich meine Begleitung aus England über diese bemerkenswerte Beobachtung aufkläre, während ich mich über den Teller mit den kalten Reiskluppen zu ihr herüberbeuge, zuckt sie nur mit den Schultern. Sie interessiere sich nicht für den Osten, seine Kulturschaffenden oder seine Kosmonauten. Ich frage sie, ob sie selbst schon mal Prominenten gesehen habe. Nein, sagt sie.

Klingeltonk
08.08.2011, 07:41
Oh, das ist hübsch: er "stellt seine optische Reputation wieder her".