charley_brown
06.10.2009, 01:12
Es war ein schwüler Montagmorgen, und die Zeitungen titelten "S-Bahncaos" und ich fuhr zu einem Italienischtest an die Uni. Drei Blätter italienischer Grammatik konnte ich eben noch an die Brust knüllen, als die Bahn einfuhr und die Türen zu einem dicken Menschenpfropfen hin öffnete. Zielstrebig meine Blätter durch die Menge kämpfend sackte auf einen Sitz: gegenüber, eine Vierergruppe weiter, las ein Mann in der Zeitung einen Artikel von Alexander von Schönburg. Mein Gegenüber hatte dunkle Augen, einen Dreitagebart mit Hang zum rötlichen und dunkle, kurz gescheitelte Haare. Er trug ein dezent kariertes Jackett mit sandfarbenem Grundton, ein helles Hemd, eine Jeans und rahmengenähte Schuhe. Wäre die Bahn nicht nach Osten gefahren, hätte ich Ihn für einen alleinerziehenden Politikberater aus dem Prenzlauerberg gehalten. "Capirei, capiresti, capi.." die Bildung des italienischen Konditionals schien einfach blieb aber unbegreiflich. Der Herr blätterte in einer Englischen Zeitung merkwürdigen Formats - noch immer Schönburg. Warum schrieb der überhaupt in einer englischen Zeitung? Hauptbahnhof: die Türen öffnen vergebens. Der Politikberater blätterte nochmals: noch immer Schönburg. War der so rasch und stilvoll verarmt, dass er Seite um Seite Englische Zeitungen füllen musste? Friedrichstraße: wir standen auf, "Verzeihung," sagte ich, "was ist das für eine Zeitung?" "Der Daily Telegraph" sagte er freundlich, und als er mich weiterhin fragend sah "Sie können Ihn in jeder Bahnhofbuchhandlung erwerben." "Und der Artikel von Schönburg?" fragte ich mit Fingerzeig. Über sein Gesicht folg ein Schatten, er drehte und verschwand durch die Tür in der Menge. Ich stand dümmlich am Bahnsteig und verstand gar nichts. Dann dämmerte es mir: nicht der Artikel war von Schönburg, sondern die Zeitung - es war einfach eine dieser neumodischen Online-Versionen, die man bezahlte, ausdrucke und die dafür in so ziemlich jeder Ecke den Namen des Käufers trug. Die andere Prüfung habe ich knapp bestanden.