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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Schwarzer, Alice (ist deprimiert)



Dideldi
23.10.2007, 16:52
Kostümierte haben freien Eintritt, wofür man die Veranstalter ruhig ein Viertelstündchen würgen sollte. Verpickelte Sailermoonklone halten Halle drei besetzt, aus neonblauen Katzenkostümen quellen Tonnen von Babyspeck, und direkt vor mir pubertiert eine fette vierzehnjährige Leiche im schwarzen Brautkleid. Sie ist dahin, die Ära der sanften buckligen Handarbeitslehrerinnen, die auf den leisen Sohlen ihrer orthopädischen Schuhe durch die Frankfurter Messehallen huschten und nur gelegentlich innehielten, um scheu den Einband beispielsweise einer in Gazellenleder gebundenen Robert-Walser-Ausgabe zu streicheln. Ziemlich aggro, aber auch nicht ganz unemo kämpfe ich mich zu dem karnickelbuchtenkleinen Stand eines in Kulturpessimismus machenden und mir schon deshalb ungeheuer sympathischen Verlages vor. Hier docke ich an und blättere ein bißchen in den Neuerscheinungen. "Soziologie - Studieren für die Praxis", offensichtlich ein humoristisches Werk.
An dem Stand schräg gegenüber sitzt unter einem Transparent mit der Aufschrift „Signierstunde Alice Schwarzer“ eine einsame Alice Schwarzer, deren mit dunkelrotem Lippenstift versehener und zu einem gesellschaftskritischen Dauerlächeln verzogener Mund fatal an einen Briefschlitz erinnert. Alice Schwarzer kommt mir auf den ersten und dann auch auf den zweiten Blick ziemlich mondän vor, auch haben ihre raumgreifende Pose und die Art, wie sie die Beine übereinandergeschlagen hat, etwas beeindruckend Provokantes. Ich lasse mein Buch sinken und denke, gar nicht mal so übel für ihr Alter, die muss ja auch schon hundertzwanzig sein, ob die sich die Falten unterspritzen lässt?
Alice Schwarzer langweilt sich, jedenfalls sieht sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr und auf die gleichgültig sich vorüberwälzende Menge, die vermutlich zu der Lesung irgendeines Dreck in der Güteklasse von „Warum Männer neben das Klo pieseln und Frauen immer so viel Schuhe kaufen“ auf den Buchmarkt aulenden Schwachmaten unterwegs ist. Ihr Dauerlächeln friert einen Moment lang zu einer tapferen Grimasse ein.
Ich gucke einen Moment zu lange, Alice Schwarzer guckt, wer da guckt, was mir peinlich ist, also gucke ich schnell wieder weg. Einen Moment lang fühle ich mich verantwortlich für den seelischen Komfort dieser zu Unrecht vereinsamten Frau. Hingehen, Gespräch von Frau zu Frau anzetteln? Guntach, ich kenn Sie aus Fernsehn und ich wollt Ihnen schon immer mal sagen, dass...? Nein. Ich schlage mich seitwärts in die Menge und reiße einem Kerlchen im Prinzessin-Lillifee-Outfit dabei versehentlich den Flügel ab.

stu
23.10.2007, 17:05
Sparschlitz nennt man diesen Mund bei uns zu hause. Meine Mutter hat so einen, sie ist Schwäbin, da gehört das so.
Herzlich Willkommen, Frau Dideldi.

klesk
23.10.2007, 17:23
"guten tag frau schwarzer, wären sie so freundlich, meine brüste zu signieren?" hätte nahegelegen, wenn eh gerade keiner geguckt hat.

auch von mir ein herzliches willkommen.

Angelika Maisch
23.10.2007, 23:47
Ein Einstand, der nicht zum Würgen einlädt, sondern mehr zum Herzlichwillkommen heißen.
Daher nochmals:
Herzlich willkommen, Frau Dideldi.

Dideldi
24.10.2007, 12:51
Oh, vielen Dank für das nette Willkommen! Schade, dass sich nur so selten Promis in mein Sichtfeld verirren, abgesehen von Thierse, der mir in der Kollwitzstraße kürzlich ca. 26mal hintereinander über den Weg geradelt ist. Vielleicht berichte ich ja mal davon; das wird dann aber ziemlich episch. Signieren lassen (um der Frage schnell mal vorzugreifen) habe ich mich allerdings auch von dem nicht.

Klaus Caesar
24.10.2007, 13:40
Sie haben aber schon mitbekommen, Frau mit der schönen Geschichte und dem depperten Pseudonym, dass diese Promigeschichten nur ein mittlerweile leicht angegammeltes Einfallstor sind, nur der winzige Entreebereich eines verwinkelten, undurchsichtigen Schlosses, in dem seit nunmehr sechs Jahren unglückliche Seelen gefangen sind und darauf warten, erlöst zu werden? Erlöst werden sie übrigens keinesfalls durch die Schilderung eines radelnden Thierses, auf die wir hier freundlichst verzichten können, sondern nur durch frisches Blut, also schauen Sie sich ruhig etwas genauer um. Und wundern Sie sich nicht über die Zombies, die sind nur ein bisschen untot, aber die tun nix.

Dideldi
24.10.2007, 13:53
Ganz Berlin ist voll von Leuten, an denen Thierse im Minutentakt vobeiradelt, vermutlich verdient er sich auf diese Weise seinen Lebensunterhalt, und Sie wollen die Schilderung eines solchen Kollektiverlebnisses einfach so abwürgen? Von mir aus gerne.

marieke
24.10.2007, 14:11
wer einem, meinem empfinden nach, viel häufiger radelnd begegnet - ohne ihn wüsste ich gar nicht wie viele tote winkel mein auto hat - ist herr ströbele. ich hätte ihn ohne großen aufwand mindestens schon vier mal an- bzw. überfahren können. mach ich aber nicht, denn dann könnte ich meinen vater ja nicht mehr mit dem satz "den hab ich in den bundestag gewählt!" auf die palme bringen.

Klaus Caesar
24.10.2007, 14:43
Ich kann mich diesbezüglich auf keine Statistik oder wissenschaftliche Untersuchung stützen, meine mich aber nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, wenn ich behaupte, dass man einem radelnden Ströbele häufiger begegnet als einem radelnden Thierse, wenn man in Kreuzberg wohnt, wohingegen sich jemandem, der in Prenzlauer Berg wohnt, ein völlig anderes, ja reziprokes Straßenbild bietet. Die Gründe für diese Sonderlichkeit sind mir allerdings selbst völlig schleierhaft.

marieke
24.10.2007, 15:09
der bezirk in dem ich herrn ströbele ein paar mal nicht überfuhr war mitte. der bezirk mitte befindet sich, wenn man es so lapidar ausdrücken will, zwischen kreuzberg und prenzlauer berg bzw. zwischen moabit und prenzlauer berg. die wege der herren thierse und ströbele von zu hause bzw. vom wahlkreisbüro in den bereits erwähnten bezirk mitte dürften also ungefähr gleich lang sein.

Dideldi
24.10.2007, 15:19
Was da so ströbelemäßig in Kreuzberg abgeht, weiß ich ja nicht, aber mit Thierse ist das so: Alle, wirklich alle Bewohner des Prenzlauer Bergs reden über nichts als darüber, ihn täglich beim Bäcker zu treffen. Oft wird er bei vier bis sechs Bäckern gleichzeitig gesehen, während er im selben Moment sowohl zeitunglesend auf dem Kollwitzplatz im Café sitzt als auch die Belforter Straße langspaziert. Mit anderen Worten, er ist omnipräsent, so wie Gott. Erkannt wird er, also Thierse jetzt, an seiner Behaarung, die traditionell als "irgendwie fusselig" beschrieben wird.

Helsinki
25.10.2007, 01:10
Wen ich mal fast mit dem Fahrrad überfahren hätte, als er aus dem Taxi stieg, war Walter Momper. Erst habe ich mich geärgert, dass ich ihn nicht erwischt habe, dann habe ich ihn aber doch gewählt, als er später nochmal gegen Diepgen angetreten ist. Aus purer Hilflosigkeit zwar, aber es war mir doch so peinlich, dass ich auf einem nächtlichen Nachhauseweg zwei Freunden davon erzählte. Die Freunde begannen sofort, mich lautstark zu verspotten und auch zwei Betrunkene, die gerade aus einer Kneipe kamen und das irgendwie mitbekommen hatten, zeigten spontan mit dem Finger auf mich und riefen: "Hö,Hö. Der hat Momper gewählt! Hö,Hö. Der hat Momper gewählt!"

rron
25.10.2007, 01:15
Man kann auch (http://www.hoeflichepaparazzi.de/forum/showthread.php?t=14265) außerhalb Berlins Radfahrer absitzen machen.

Max DeRire
25.10.2007, 08:34
Hätte Martin Hohmann im Jahr 2003 in der Fuldaer Markstrasse seine ausladende Hüft- und Armbewegung weitere 8cm in meine Bahn gesteuert, seine Finger und Kniescheiben wären aus meinen Radspeichen in kochendem Wasser zu lösen gewesen. So blieb es Wunsch.

joq
25.10.2007, 09:53
Max!
rron!

Ich habe Erscheinungen

vir
12.11.2007, 10:56
Die Schwarzer-Geschichte hier ist gut. Richtig saugut wäre sie, finde ich, wenn man das "versehentlich" aus dem letzten Satz weggelassen hätte.

verbraucherin
21.11.2007, 16:25
Liebe Frau Dideldi,
der Wolfgang Thierse der Gegend östlich der Prenzlauer Allee ist ja Daniel Brühl. Man begegnet ihm im sogenannten Wins-Kiez (ääh, ekliges Wort) auf Schritt und Tritt; und wenn er einem nicht selbst erscheint, hört man gerade jemanden raunen, dass da eben Daniel Brühl vorbeiging. Unsere Wege kreuzten sich auf eher unschöne Weise, und zwar auf der Post in der Prenzlauer Allee. Ich wollte mich dort beschweren, da die Angestellten dieser Filiale daran schuld waren, dass ich mehr als vier Wochen auf einen Telefonanschluss warten musste. Als ich in der Schlange stand, bemerkte ich in der Wartereihe neben mir Daniel Brühl. Er sah so zum Drüber-weg-gucken aus wie immer, doch er war's; kein Zweifel. Dann war ich an der Reihe und geriet an eine Dame namens Kathi Langnese (sie heißt wirklich so). Sie wollte mein Anliegen erst nicht bearbeiten, dann stellte sie sich dusslig und irgendwann merkte ich, dass ich mich über ihre hartleibige Ignoranz unaufhaltsam und immer lauter echauffierte. Es ist ja immer peinlich, aggressive Bittsteller in öffentlichen Räumen zu erleben; aber besonders furchtbar ist es, wenn man selber einer ist und der Schauspieler Daniel Brühl aufmerksam dabei zusieht, wie man eine arme Postangestellte zur Sau macht, nur weil man zuhause kein Telefon hat. Seither fühle ich mich immer unangenehm berührt, wenn ich Daniel Brühl sehe.