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Syphilister
09.12.2005, 10:28
Borgholzhausen -
Osnabrück -
Tokio -

HOTEL

Kürzlich lernten wir, dass es völlig normal ist, wenn Starkstromleitungen auf Autobahnen fallen und ihre Masten wie Männer vor der grossen weissen Frau einknicken. Im Frühling wird dann das Emsland voll laufen und Besucher sollten sich Schlauchboote auf die Autos binden. Ob nun Bote der Klimaerwärmung oder nur ein stationäres Tief mit kreisenden Schneewolken, die Liebste und das Radio redeten von einer Katastrophe, ich änderte die Route und fuhr dann halt auf Landstrassen in den Schneesturm. Kurz vor der Wiederauffahrt auf die Autobahn hielt ich gekuschelt an eine Schneewehe und hörte den ersten detaillierten Bericht aus der Gegend um Osnabrück. Keine Chance auf den letzten sechzig Kilometern zu ihr und ich kehrte um zum Landhotel, das ich an der letzten Kreuzung einsam stehen gesehen hatte.

Leer und dunkel lag die Vertreterabsteige, mässig angetan über einen Gast waren die Wirtsleute, die gerade schliessen wollten, kalt und bemerkenswert ungemütlich das Zimmer, welches ich mir selbst in dunklen Gängen zu suchen hatte. Nachdem die Liebste und ich uns über die Scheeberge, die zwischen uns lagen, hinweg getröstet hatten, kroch ich ins Bett und tat mir Freitagabendfernsehen an. Das passte zu den mit Schnee verklebten Fenstern, deren hässliche Gardinen man hätte abfackeln müssen. Eine Gruppe Halbwüchsiger redete darüber, dass sie, obwohl minderjährig, schon einige Dinger gedreht hatten, zum Beispiel dem Papi das Auto gemopst. Ach Gott, ja. Den Fernseher müsste man auch anzünden, es würde warm und gäbe eine schöne Röhrenimplosion. Aber interessant sahen sie aus. Einer wie ein Sohn von Robert Smith und Boy George. Fette, pechschwarze Gelsträhnen hingen vor der riesigen Sonnenbrille herab, die ein hübsches Knabengesicht verbarg. Mich erheiterte seine sehr aufgesetzt tuntige Art zu rauchen und zu reden. Das hatte ich in dem Alter nicht anders gemacht, so kam man in der Provinz in die wirklich verruchten Clubs und Bars. Beim Zappen sah ich noch Herrn Lindenberg (beziehungsweise seinen Hut und die Sonnenbrille) etwas absondern und dachte über die Zukunft der Knaben nach, die ich im Beitrag als die Band „Tokio Hotel“ kennen gelernt hatte. Ich träumte von brennendem Schnee der zu grauen Gardinenlappen schmolz und Fernseher entzündete im Hotel in Borgholzhausen und versuchte früh am nächsten Morgen weiter in die Arme der Liebsten zu kommen.

Es gelang in Stunden, bis zum Sonntagabend hatte ich ihr von den Dingen zu berichten, die ich auf meiner Odyssee erlebt hatte. Von hunderten genickten Bäumen, Masten, eingeschneiten Autos in den Gräben, von Elchen und Eisbären erzählte ich ihr in der warmen Wohnung.

Trotzdem fuhren wir nach Osnabrück um an einer Vernissage im Remarque Hotel teilzunehmen. Eine der Künstlerinnen sollte durch unsere Anwesenheit erfreut werden. Die Runde durchplauderte die persönlichen Schwierigkeiten zu kommen und zu gehen, die Hotelvertreterin verwies lachend auf die Notbetten, die noch immer aufgestellt waren. Die Galeristin selbst führte in einer Rede durch die Werke, es war von konsequent aintellektuellem Zugang, Meisterschaft in der Reduktion, die eine Meisterschaft der Konzentration erfordere und vom geschwulstartigen Fressen der Farbe durch den Untergrund, der Rost war, die Rede. Mir gefiel das alles nicht, denn eindeutig und auf Nachfrage bestätigt, waren das die Worte der Künstler selbst und das hasse ich wie die Post. In die Selbstdarstellungen hinein kam Unruhe von oben. Eine Gruppe Jungen schickte sich an die Wendeltreppe herabzukommen, unter der die Vernissagebesucher lauschten. Einige sassen auf ihr und zuerst ging ein erwachsener Mann energisch durch sie hindurch, blieb in mitten der Veranstaltung stehen und drehte sich zur Treppe. Sein Blick forderte, die Knaben mögen sich doch bitte auf dem von ihm geschlagenen Weg beeilen. Sie kamen wirklich auffallend langsam die Treppe herab. Eine Klassenreise? Ins Steigenbergerhotel? Vielleicht störten ihre Sonnenbrillen auf der tückischen Treppe, wobei es mehr den Eindruck machte, als warteten sie auf etwas. Etwas, das von uns, der Gruppe aus dreissig Leuten zu ihren Füssen kommen sollte. Einer von denen tänzelte beim Herabbummeln. Der Arm mit der Zigarette schwang langsam und betont bei jedem Schritt. Diese Kinderdiva kannte ich, die schwarzen Strähnen, die Riesenbrille, das ganze, schwarze, unsymmetrische Outfit. Das waren die von gestern Abend aus dem kalten Hotel. Tokio Hotel ging völlig unbeachtet quer durch die Veranstaltung. Das Publikum liess sich nicht stören und lauschte aufmerksam den schlauen Worten über Schichten, Spektren und Blickpunkte von Künstlern.
Nach der Rede standen wir mit unserer Freundin vor ihren Arbeiten und sahen, wie der Rost auf dem sie malte, tatsächlich das Bild zu sprengen schien. Das war wirklich aufregend. Ein paar Leute hatten die Band doch erkannt, aber Thema blieb zum Ende nur eins: Wie komme ich in diesem Chaos heim? Notbetten waren noch da.

Tristram Shandy
09.12.2005, 10:37
Das ist schön!

Aber vielleicht überdenken Sie noch mal Ihr Pseudonym. Andererseits kann man es hier auch zu was bringen, wenn man Fixi Popogott heißt. Also egal. Jedenfalls ist die Geschichte ganz reizend, auch weil sie in Osnabrück spielt, und weil eine Osnabrücker Vernissage darin vorkommt.

Und das ist die beste Geschichte über eine Osnabrücker Vernissage, die ich verdammt noch mal je gelesen habe.

Ich war mal auf einer Osnabrücker Vernissage, auf der Bazon Brock ganz unerträglich banales Zeug schwafelte, aber damit sein Publikum schon überforderte und anschließend nur höflichen Applaus erntete. "Das war ja ganz interessant", sagte meine Mutter anschließend.

vir
09.12.2005, 11:33
Ich finde die Geschichte ein bisschen zu schmuckvoll, aber der Erzähler ist schlau und lässt sich schwer fassen. Ein marinierter Aal, sozusagen.

Evian
09.12.2005, 14:55
Ich mag die Geschichte und finde sie nicht zu schmuckvoll. Ähnlich wie bei Tristram mag ich sie aber auch, weil sie in Osnabrück und im Hotel Remarque spielt.
Die schönste Vernissage, die ich in dieser Stadt erlebte, war, als eine Frau die sterbenslangweilige Eröffnungsrede von OB Fip unterbrach, um sich lautstark danach zu erkundigen, wann es denn endlich die alkoholischen Getränke für umsonst gäbe.
Und zum Remarque fällt mir folgendes Erlebnis eines Freundes ein: Er wollte im gehobenen Bistro des Hotels seine Eltern auf ein Glas Sekt einladen. Der Kellner sagte, Sekt gäbe es nur Flaschenweise, aber sie könnten ja Prosecco trinken, weil "das schmeckt ja sowieso alles gleich".

Tristram Shandy
09.12.2005, 18:09
Dabei hat das Restaurant "Vilareal" im Remarque-Hotel bemerkenswerte 17/20 Punkte im aktuellen Gault Millau.

Ich habe da mal einen ziemlich zerkochten Steinbutt gegessen, aber vielleicht musste der so.

raumoberbayern
09.12.2005, 18:53
das ist schön und Osnabrück klasse. (Weilte ich doch neulich in der größten und prämierten Disko der Welt -- zumindest aber Niedersachsens in Osnabrück. Es gab Wodka an der Eisbar. Hach.) Aber warum hassen Sie denn die Post? Nicht dass ich sie liebte.

Syphilister
10.12.2005, 10:14
Allerbesten Dank für die ausgesprochen freundliche Aufnahme der kleinen Geschichte hier. Bei meinem Synonym bleibe ich mal, schliesslich habe ich damals viel Geld dafür gezahlt, als das Internet die Welt zu verändern versprach und die Börse Blasen warf. Ähnlich gut würde vielleicht noch „Berlichingen“ passen, das wichtigste Zitat aus diesem Stück beschreibt mich ebenso gut.

„Wo viel Licht ist, fällt auch starker Schatten.“

Der „Streuner“ ist ja leider schon vergeben.
Osnabrück scheint aus irgendeinem Grunde beliebt zu sein. Ich reise erst seit kurzem regelmässig in diese Gegend und brachte die Stadt bisher nur mit Heinz Rudolf Kunze in Verbindung. Sagt man das einem Osnabrücker, verzieht sich sein Gesicht. Und sie haben diesen Link auch nicht verdient, selbst wenn sie Lisa heissen und immer noch nackicht mit ihren Teddys spielen.

Von dem hier erwähnten Bistro war während der Vernissage auch die Rede, die Künstler bestanden aber auf einen Italiener dem Hotel gegenüber. Eine Russin und eine Chinesin übten dort bedienen und ich bekam eine Ahnung von Antwort auf die Frage, wer den deutschen Gammelfleischhändlern eigentlich die triefende, graugrüne Ware abnimmt.

Die (deutsche) Post hasse ich, weil die Liebste mir ab und an ihr Herz aus dem Osnabrücker Land schicken will. Dazu muss sie in einen Schreibwarenladen gehen, in dessen dunkelster Ecke zwei Frauen Postamt spielen. Schnell ist die Post ja, schon am nächsten Tag bringt der Briefträger das Paket nach Hause zurück, da es falsch frankiert ist. Und das tut er immer.

Schade das Smileys hier unbeliebt sind. Die treffende Charakterisierung „marinierter Aal“ hätte nicht mehr und nicht weniger als einige von diesen verdient.

Doctor Subtilis
10.12.2005, 17:18
Ich glaub das mit dem marinierten Aal war wegen Frau Loren.

Pond
10.12.2005, 18:51
Oder sollte es manierierter Aal heißen? Hmhm.

Effe Oberg
12.12.2005, 09:53
Das scheint mir mit dem Osnabrück-Hype eher so eine Folge der Verzweiflung und des Euphemisierens zu sein, zumindest sagen das ehemalige Weggefährten, die es aus unterschiedlichen Gründen dorthin verschlug und die sich ihre Situation kontinuierlich schönreden und schöntrinken.
Angeblich gab es vor ca. zwei Jahren eine Umfrage, bei der sich herausstellte, dass die Osnabrücker die mit ihrer Stadt zufriedensten Bürger sind. Was soll man aber davon halten, wenn man Aufkleber mit dem Slogan "Ich komm' zum Glück aus Osnabrück!" auf Osnabrücker Autohecks liest?

Mutti
12.12.2005, 18:04
Das mit dem Schönreden und Schöntrinken kenne ich auch von so einigen Weggefährten, die es nach Münster verschlagen hat.
Und die Osnabrücker sind in der Tat Meister des schlechten Reims; die "Frühgaststätte" am Bahnhof wirbt für sich mit Folgendem: Bist du noch nicht müde und willst noch nicht ins Bette, dann komm doch in die Frühgaststätte.

Effe Oberg
13.12.2005, 07:57
Der Vorteil ist aber, dass sich nichts auf Münster reimt (Ausnahme: "In dieser Stadt bin ich ein Dünster, denn ich sauniere nur in Münster!").