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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Kling, Else (Annemarie Wendl)



Evian
06.11.2004, 16:28
Vor Jahren arbeitete ich in einem der schönsten Cafes meiner Heimatstadt. In erster Linie handelte es sich hierbei um eine städtische Galerie, in der eigentlich nur regionale Künstler ausstellen sollten. Die alte Reichsbahnschmiede mit ihren sechs Meter hohen Decken und ihrer Fabrikhallenatmosphäre lockte im Laufe der Zeit aber auch immer mehr überregional bekannte Aussteller an, denn hier fanden sie etwas, was es sonst selten gibt in Galerien: Eine sehr lebendige Umgebung, viele Menschen, ein angenehm unsakrales Flair. Warum das so war? Nun, mitten drin in den heiligen Ausstellungshallen standen dreizehn Tische, an denen man essen, trinken und rauchen durfte.
Wir waren gleichzeitig Kellner und Aufsichtspersonal. Letzterer Job war nur bedingt angenehm, musste man sich doch mindestens einmal täglich den Vorwurf gefallen lassen, kinderfeindlich zu sein, wenn man den Nachwuchs davon abhielt, ein überdimensionales Gipsei von Heinrich Brummack im Werte von 10000 DM mit Filzstiften zu verzieren oder mit schokoladebeschmierten Patschhändchen blütenweiße Bilder zu erfühlen. Ansonsten war es aber schön dort. Die städtische Theater - , Musik- und Kunstprominenz lümmelte sich ebenso bei uns wie die Aussteller, die es genossen, den Kommentaren zu ihren Werken bei Kaffee und Bier zu lauschen. Manche schöne Geschichte spielte sich dort ab.
So hatte ich das große Vergnügen, die von mir hochgeschätzte Anke Feuchtenberger kennen zu lernen. Sie kam nie ohne ihre Weimaraner Hündin ins Cafe, die immer, wenn sie sich hinlegte, ihre Vorderbeine grazil übereinander schlug und sehr, sehr ladylike ihre stahlblauen Augen gen Himmel erhob. Ich weiß noch, wie einem meiner beiden Chefs, Ulf, schlecht wurde, als er sich meine Grit Bath - Comics ansah. Er hatte mich gebeten, sie mit zu bringen, weil ich mich mit Frau Feuchtenberger begeistert darüber unterhalten hatte. Schweigend las er mehrere Seiten, sah mich und Frau Feuchtenberger leicht grün verfärbt an und schaute mich auch weiterhin ab und zu verstohlen von der Seite an, so, als ob er ein tiefes, furchtbares Geheimnis in mir vermutete.
Oder der bereits genannte Heinrich Brummack. Der half mit beim Aufbau seiner Exponate, sehr brummelig und übelgelaunt, einen Beuys - Hut auf dem Kopf und begann, mehrere Gipsigel fein nebeneinander auf der Theke anzuordnen. Als ich ihn freundlich darauf aufmerksam machte, dass die Theke nun nicht gerade Ausstellungsfläche sei, flippte er aus, von null auf hundert, wie in einem sehr, sehr schlechten Film über irgendeinen exzentrischen Künstler: "Das sind MEINE Sachen, und ICH bestimme, wo sie stehen sollen!" Ich verneinte, und er brüllte: "Ich bin KÜNSTLER, und ich KANN - SO - NICHT - ARBEITEN!!!" Heini kam jeden Tag, lauschte, mischte sich ein, bepöbelte Gäste, die sich nicht freundlich genug zu seinem Werk äußerten.
Eines Tages fuhr er mit einem LKW vor und befahl, man möge ihm beim Ausladen eines Tisches helfen. Er gedenke, in einer Woche seinen Geburtstag bei uns zu begehen und er bräuchte dafür diesen Tisch. Die Bude war rappelvoll, die beiden Chefs nicht da. Ich sagte, das ginge nicht, es sei kein Platz für einen drei Meter langen Tisch und es habe auch niemand Zeit, ihm zu helfen. Daraufhin baute er sich auf und schrie: "Ich hab da draußen einen TISCH! Der muss hier rein, und zwar SOFORT! Ich brauche HELFER!" Tatsächlich halfen ihm ein paar Gäste, das Ungetüm hereinzuschaffen, Heini schaffte Platz, wo keiner war, indem er Menschen verscheuchte und Tische verrückte.
Am Geburtstage war der Brummbär erlesen gut gelaunt, brachte Leuchter und Tischwäsche mit, deckte liebevoll für zehn Personen ein und stieß mit uns an. Ein Liedchen summend wartete er auf seine Gäste. Niemand kam. Niemand. Und jeder war dabei und konnte beobachten, dass niemand kam. Es war traurig, es war demütigend, anfängliche Häme verwandelte sich langsam in ehrliches, tiefempfundenes Mitleid. Heini alterte an seinem Geburtstag nicht um ein, sondern um zehn Jahre; er sackte förmlich in sich zusammen und ging zu Grappa über, zu sehr, sehr viel Grappa. Gottseidank fing er nicht an, zu weinen. Seit diesem Tage wurde er milder und netter und leiser, denn er wusste nun, dass wir wussten, wie kläglich seine Existenz in Wahrheit war.
Eine Dame, die hin und wieder Kaffee bei uns trank, war Annemarie Wendl, besser bekannt als Else Kling, die einzige Person, für die es sich lohnt, die "Lindenstraße" zu schauen. Sie hatte (oder hat noch, wer weiß) eine Freundin, die als Schauspielerin an unserem Stadttheater spielte. Wenn Frau Wendl zu Besuch war, kamen die beiden zu uns.
Als sie zum ersten Mal da waren, sagte Ulf leise in seinem zynisch - süffisanten Tonfall: "Ach, schau an, die Else Kling!" Sein Mitstreiter Josef aber, Lindenstraßenfan par excellence, kreischte umgehend los: "Frau Wendl! Wie freue ich mich, Sie hier zu sehen!" Es begann ein großes Schauspiel. Frau Wendl hatte nichts, aber auch gar nichts gemein mit der nervigen, bayrischen Schürzenmutti Else. Sie hatte schimmernde, glatte, zu einer Art längerem Bob geschnittene Haare, sie war dezent geschminkt und trug ein asymmetrisches, langes Kleid in gedeckten Erdfarben. Und sie sprach gestochenes Hochdeutsch.Eine äußerste elegante, ältere Dame. Sie freute sich über Josefs Begeisterung, blieb aber distanziert,was wenig verwunderlich ist, denn schließlich wollte sie Kaffee trinken und nicht lauthals angekrischen werden. Josef registrierte das allerdings nicht. Er stürzte davon, um das Gästebuch zu holen und bat sie, doch bitte, bitte etwas hinein zu schreiben. Das tat sie auch, etwas nettes, aber unspektakuläres, etwas wie: "Es ist sehr schön hier. Mit netten Grüßen, Annemarie Wendl". Josef indes war so entzückt, als hätte er soeben ein mehr als zweideutiges Angebot von seiner Angebeteten erhalten, ich meine, er ist sogar ein wenig rot geworden.
Insgesamt begegnete ich Frau Wendl vier Mal. Sie war immer nett, elegant und charmant. Beim letzten Mal, es mag ungefähr sechs Jahre her sein, machte sie allerdings einen leicht verwirrten Eindruck. Sie bestellte eine Tasse Kaffee, um drei Minuten später erneut eine Tasse Kaffee zu bestellen. Als ich sie darauf aufmerksam machte, dass sie bereits bestellt habe, sagte sie erstaunt: "Oh, achso?" Sie bekam ihren Kaffee und bestritt, Kaffee bestellt zu haben. Ihre Freundin redete daraufhin leise und beruhigend auf sie ein, und ich zog mich diskret zurück. Gut, dass Josef an diesem Tage frei hatte. Er hätte sonst möglicherweise angefangen zu weinen.

chrislenz
06.11.2004, 17:16
Ich habe diese lange Miniaturenreihung nun von vorn bis hinten gelesen, und da war sie schon zuende, schade. Willkommen. Und ein Bier und noch ein paar Absätze, bitte.

Malevitsch
06.11.2004, 17:19
Für ein fantasievolleres Lob als "Schöne Geschichte" bin ich leider grade zu schwach, daher:Schöne Geschichte, Willkommen im Forum.

Zu Heini Brummack heißt es anderswo:

"Heinrich Brummack ist 68er, aber einer von
denen, die über 30 Jahre später nicht vergessen haben, wie der Hase (...) damals lief.

Heinrich Brummack ist Moralist ohne erhobenen Zeigefinger und mit seinen Ansichten und Arbeiten seiner Zeit immer
wesentlich voraus. Er wundert sich aber nicht, wenn das, was er 20 Jahre zuvor anregte, auf einmal interessante Normalität ist - nicht nur in der Kunst. Heinrich Brummack ist Bildhauer und Gartenarchitekt mit surrealen und realen
Träumen und mit einem Faible für das Unerwartete.

So gewann er mehrere Wettbewerbe, deren
Entwürfe nie ausgeführt wurden. Wer will sich schon gern im Bundeskanzleramt zu einem Tisch der Autorität, in Brasilien zu einem Diktatorenthron oder in Europa zu Aggressions-objekten bekennen?
Heinrich Brummack nutzt in seinem Werk die Mittel von Karikatur und Satire, ohne jedoch
bildhauerische Gesetze zu missachten. Nimmt es da Wunder, dass sich eine über zwei Meter hohe gusseiserne, vergoldete Vase auf dem Verkehrskreisel eines Industrie- und Gewerbegebietes gegen Mac Donald und Co
glänzend durchzusetzen vermag?
(...)

Jörg-Heiko Bruns"

DerCaptain
06.11.2004, 17:51
Ja, das habe ich auch gerne gelesen. Annemarie Wendl bin ich auch mal begegnet, in der Vorweihnachtszeit 97 oder 98, in der Hardenbergstrasse bei Kiepert. Radio Fritz vom RBB hatte mehrere Lindenstrassen-Mimen geladen und veranstaltete irgendeine Benefiz-Versteigerung wg. AIDS oder so. Ganz im Gegentum zu Evian hatte ich den Eindruck, daß Frau Wendl exakt auf ihre Rolle Else Kling gebrieft war - sie war mürrisch, grantig und unhöflich, ich hielt ihr die Tür auf und sie maulte mich an, wie kalt es in Berlin zu dieser Jahreszeit war. Hallo? Dezember? Ich kaufte irgendeinen Quatsch und ärgerte mich noch 10 Minuten über sie. Danach hab ich sie dann vergessen.

Lautmakel
07.11.2004, 23:40
So wie der Captain habe ich Stargast Else Kling auch mal erlebt vor etwa 10 Jahren, Sommerfest mit Autogrammstunde im CitroËn-Autohaus. Man konnte gut bemerken, wie zuwider es ihr war durch den Pulk Menschen mit Bingozetteln in den Händen zu dem für sie vorgesehenen Tischchen zu dringen.

Audi / VW -haus nur wenige Monate später, dort noch entnervter Hajo, Knut Hinz - allerdings erst, nachdem mein Freund auf seine Frage, was er denn aufs Autogramm möchte, antwortet: Für Rehlein!. Hajo guckt obdessen so böse zu uns herauf, daß ich ihn gleich nochmal "für Rehlein" schreiben lassen muss damit er das und Demut mal üben kann.