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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Schill, Ronald, schreckt Omis



emily minibar
19.08.2004, 22:54
Ich überlege, wo im Rathaus das Klo ist, als ich eine der austauschbaren Innenstadtstraße überquere. Ich hasse es, mich in großen alten Gebäuden zu verlaufen, aber es fällt mir nicht ein, fällt nicht, Kopf gesenkt, ich gehe. Zwei Omis schrecken zusammen.

Sie kommen mir entgegen, eingehakt, liebe Omis, keine dieser Hanseatinnen. Sie sind fremd hier am Neuen Wall, ausgehfein, sie reißen die Köpfe hoch. Der Mann vor mir ist groß, seine Tasche habe ich die ganz Zeit angesehen: „Sammeln Sie Punkte beim Telefonieren.“ Will ich nicht, durchblick ich nicht, lohnt auch nicht, weil die Durchblick-Energie mehr kostet, als ich je gewinnen würde. Die Omis weichen aus.

Sie haben die Augen aufgerissen, als hätten sie Angst, dass der Mann ihnen was tut – jetzt, wo er nichts mehr zu verlieren hat. Dass er sich rächt, weil sie ihn erst protestgewählt und dann mit Wonne protestnichtgewählt haben. Ein grauer Sommeranzug. Böse, denken sie, böse. Der Mann geht vorbei, sieht nicht. Ronald B. Schill trägt außer der Tasche zwei Plastiktüten in der gleichen Hand, eine von einer Buchhandlung und eine weiße, durch die die Tageszeitung scheint.

Ich habe ihn schon oft auf Terminen gesehen, seit Jahren schon, jetzt sehe ich ihn die ganze Zeit nur von hinten, es könnte jemand anders sein, aber eben nicht. Er geht, als wären die dünnen Beine Metallstäbe aus dem Stabilbaukasten. Eine Unwucht liegt in dem Gang, doch in den Tüten scheint nur Papier drin. Er geht Richtung Rathaus, ich verfolge ihn auf zwei Meter, wie Bodyguard oder wie Attentäter. Mal sehen, wie die Menschen gucken. Oder ob er sich umdreht.

Sie gucken nicht. Sie sehen durch ihn hindurch. Er ist abgewählt, ein Irrer, ihn gibts nicht mehr. In der Zeitung, die er trägt, habe ich etwas über den Zusammenhang zwischen Kleinflugzeugen und Altglascontainern geschrieben. Er trägt was von mir durch die Gegend.

Sein Gesicht scheint braun gebrannt, ich sehe nur wenig, will nicht mehr sehen. Er läuft an Versace und Boss vorbei, kein Seitendreh. Vor dem U-Bahn-Schacht Rathaus weht eine Windböe sein Hinterkopfhaar hoch. Die Haare fliegen, wie ein Spinnennetz sich dehnt, gemeinsam. Er will zur Bahn.

Auf der Rolltreppe fährt ihm ein Pärchen entgegen, der Mann fixiert ihn im Vorbeifahren, lacht leise, piekst vielleicht seine Freundin an. Schill taucht ab, ich gehe in den Kaisersaal. Das Klo ist nebenan.

exilsylter
20.08.2004, 09:45
Der Unsichtbare auf dem Weg nach Unten.

Auch auf dem Weg zum Rathausklo lassen sich Perlen finden.