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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Pratchett, Terry (kann die Welt nicht retten)



Aleks
14.08.2004, 21:05
Der Sommer 2000 war merkwürdig. Zuerst zogen wir vom vierten Stock ins Erdgeschoß. Als wir dort ankamen, lag der Vermieter besoffen im Bad, und die Fliesen waren noch nicht an den Wänden. Ein paar Tage später kamen die schwarzen Moderkäfer nach Friedrichshain. Das sind Tiere, die so aussehen wie Ohrenkriecher, nur zehnmal so groß, und außerdem können sie fliegen. Allerdings nicht richtig. Insbesondere können sie nicht besonders gut ausweichen, wenn man ihnen im Weg steht. Zudem besitzen Moderkäfer am Hinterteil einen Stachel, mit dem sie drohend nach oben winken, sobald man ihnen zu nahe kommt. Sie tauchten nur für einige Wochen auf, und als sie wieder weg waren, bekam ich das Pfeiffersche Drüsenfieber, eine Krankheit, bei der man wochenlang nichts anderes tun kann als im Bett zu liegen und Camus zu lesen. Schließlich war das auch vorbei. Ja, und anschließend kam dann Terry Pratchett nach Berlin.

Eine besondere Rolle spielte dabei ein schwarzes Fahrrad. Es war ein bedauernswertes Geschöpf, das die späten Jahre seines sicherlich sehr langen Lebens allein und verdreckt in einem dunklen Bretterverschlag verbrachte. Bis ich kam und es zurück ans Licht brachte. Trotz seiner Verbitterung und Lebensmüdigkeit wurden wir gute Freunde und schwankten von nun an einmütig durch die Gegend. Es ist nützlich zu erwähnen, daß es mit diesem Rad so gut wie unmöglich war, geradeaus zu fahren, denn der Lenker bestand aus zwei bis drei schlechtgeflickten Bruchstücken, wohl eine alte Verletzung aus dem letzten Krieg. Die Geräusche aus dem Tretlager erinnerten an das Zermahlen von Schädelknochen, die Räder waren zerbeult, der Rahmen wabbelte in alle Richtungen. Selbst ich, ein Meister der Anpassung an charismatische Lebensformen, war ohne Chance, aber wir liebten uns eben, nun gut. Es handelte sich natürlich um ein Damenrad, denn nur Damenräder sind in der Lage, jahrzehntelange Demütigungen zu ertragen und trotzdem lebenstauglich zu bleiben. Andererseits wurde der Rahmen durch das fehlende Oberrohr zusätzlich destabilisiert. Und schließlich zwang mich diese eigenwillige Geometrie zu einer vollkommen unmännlichen Sitzposition mit geradem Rücken, graziler Armstellung, oszillierenden Hüften und stampfendem Tritt. Dies alles sollte schwerwiegende Folgen haben.

Ich will nicht behaupten, daß es mir in diesem Sommer besonders schlecht ging. Zwar waren die Nächte sehr unruhig, denn es war heiß und die Fenster daher offen. Schwarze Moderkäfer sind nachtaktiv, hatte ich leider gelesen, und ich behielt es für mich, damit wenigstens einer von uns schlafen konnte. Zum Glück würde man sie lange im voraus hören, denn fliegende Moderkäfer knattern verzweifelt wie Museumsflugzeuge. Da war es ein glücklicher Umstand, daß mich der Schmerz in meinem geschwollenen Hals zuverlässig wachhielt. Jeder Schluckvorgang fühlte sich an, als würde eine Hyäne kurz und heftig in meinen Kehlkopf beißen. Zwischendurch fiel ich manchmal für einige Minuten in einen fiebrigen Dämmerzustand, geschüttelt von Schwarz-Weiß-Visionen über Bombennächte und Luftabwehrraketen, bis mich der nächste Schluckvorgang mit seinem charakteristischen Schmerz wieder zurückholte. Doch weit deutlicher sind mir die Tage im Gedächtnis geblieben, wunderbare Tage zumeist, an denen wir unter glänzendem Himmel sinnlose Radtouren unternahmen. Die Auswahl von Richtung und Ziel überließ ich zumeist der Gefährtin, die dies mit außerordentlichem Geschick auch sehr gut ohne mich hinbekam. So konnte ich mich allein darauf konzentrieren, das Gleichgewicht zu halten und dabei nicht wie ein kompletter Narr auszusehen. Tagelang taten wir nichts anderes, als durch die Gegend zu fahren.

Es wurde September, ein Monat, in dem mich regelmäßig schwere Melancholie überfällt. Diesmal war es besonders schlimm, weil alles vorbei zu sein schien, Sommer, Drüsenfieber und auch das ewige Radfahren. Es lag eine seltsame Ruhe über den Häusern, und die Stadt war erfüllt mit Symbolen des Abschieds: Autowracks, verwitterte Hundehaufen, übergelaufene Mülleimer, Straßenbahnen, die um die Ecke bogen, Risse in der Zimmerdecke. Unverständlich erschien mir, daß die anderen so taten, als wäre alles normal. Als der Sommer schließlich zu Ende ging, zerbrach die Allianz zwischen dem Fahrrad und mir.

Es geschah Samstag mittag irgendwo zwischen Potsdamer Platz und Karl-Marx-Allee. Ich hatte schon seit Stunden die Orientierung verloren. Schräg links vor mir ragte der Fernsehturm auf und ich hielt grob Kurs auf die Nikolaikirche. Vor uns tauchte eine Menschengruppe auf, Touristen offenbar, die laut nach allen Seiten gestikulierten und redeten, und zwar auf englisch. Die Gruppe vermied es nachdrücklich, eine präzise, vorhersagbare Richtung einzuschlagen, sondern erschien auf meinem Radar als verwaschener, flackernder Nebelfleck. Meine Gefährtin, wie immer vor mir und wie immer alles unter Kontrolle, hatte problemlos eine Passage gefunden. Ich entschloß mich, ihrem Beispiel zu folgen, lenkte sanft nach rechts, hingegen das Vorderrad bewegte sich ebenso sanft nach links und wenig später prallten wir vom Bauch des Mannes ab, der sich am weitesten rechts in der Gruppe befand. Erstaunlicherweise erzeugte der Rückstoß keine wesentliche Störung seines Gleichgewichts, es schien so, als wäre er mit der Erde verwachsen. Dabei war er nicht besonders schwer oder groß, aber dafür trug er einen großen schwarzen Schlapphut. Auch sonst war alles an ihm schwarz, abgesehen vom silbrigen Vollbart und der Kette aus Raubtierzähnen, die um seinen Hals hing. Ich konnte mir das alles in Ruhe ansehen, denn während ich wieder aus dem Busch kroch, in den ich leider fallen mußte, regte sich der Mann ziemlich auf. Am Ende sah er aus wie eine große Henne, deren Hobby es ist, ihre Kinder aufzuessen. Irgendwas verwirrtes sagte ich noch, bevor ich wieder losfuhr, und als er hinter mir immer noch zeterte, hob ich nochmals entschuldigend den Arm, was sofort dazu führte, daß das Vorderrad eine schnelle 90-Grad-Drehung vollzog. Letztlich endete ich an einer Litfaßsäule, und mehr Strafe hatte ich wegen dieses Vorfalls auch nicht verdient.

Ich weiß nicht mehr genau, warum wir am selben Abend Karten für eine Lesung von Terry Pratchett hatten. Früher war ich aus gruppendynamischen Gründen gezwungen, Terry Pratchett zu mögen. Im ersten Studienjahr war man entweder "Science Fiction" oder "Fantasy" und ganz abgeklärte lasen sogenannte "Satire", am besten über Science Fiction oder Fantasy. So landete man zwangsläufig bei Douglas Adams und Terry Pratchett. Aber das war Jahre her, und trotzdem saßen wir nun in dieser Backsteinkirche in Kreuzberg und warteten auf Terry Pratchett. Auf der Bühne stand ein großer Tisch, in dessen Mitte sich merkwürdigerweise ein großer, schwarzer Schlapphut befand, und zwar auf einem Totenschädel. Mit uns warteten ein paar hundert Verrückte, die meisten verkleidet. Ich sah Zauberer, Hexen, Kobolde, sprechende Karotten und verbrannte Alchemisten, das ganze Zeug. Man konnte schon allein wegen des Publikums in Trübsal verfallen. Aber es kam noch schlimmer, denn wenig später stand der Mann auf der Bühne, der mich ein paar Stunden zuvor zur Strecke gebracht hatte. Er setzte sich den Hut auf und begann zu schwafeln. Es war gar keine Lesung, sondern ein Talk, und so benahm er sich auch. Er erzählte und erzählte irgendwelchen Stuß, zum Glück habe ich fast alles mittlerweile vergessen. Es war ein deprimierender Abend. Auf dem Rückweg tauchten plötzlich drei Zauberer mit spitzen Hüten vor uns auf. Wir nahmen keine Rücksicht.


(für Hartgesottene: Illustration (http://www.lspace.de/fandom/tpberlin2000.html) des letzten Abschnitts)

Jeremy
15.08.2004, 11:18
Ich finde diese Geschichte sehr super und nutze hiermit die Gelegenheit, mich in zwei Punkten selbst blosszustellen. In meiner Jugend habe ich der maximale Mädchenabschreckungs-Peergroup beigewohnt, also Rollenspiele veranstaltet. Im Rahmen dieses hormonellen Leerlaufs wurde ich an die sogenannten Scheibenwelt-Romane von Pratchett herangeführt, eine Trilogie mit ca. 12 Bänden. Soviel zum Thema erfolgsinduziertes Follow Up. Jedenfalls sind die ersten paar Scheibenwelt-Romane tatsächlich witzig. Also, man kann sie lustig finden, genauso, wie man "Married with children" witzig finden kann oder ein paar Geschichten von Ephraim Schwampf.

poldy
15.08.2004, 12:24
Es ist schon eine ziemliche Unverschämtheit eine so schöne Geschichte zu schreiben. Wenn man dann einen Kommentar drunter tun will denkt man, dass das ja nur unpassend und dumm aussehen kann.
Kein schönes Gefühl.
So geht's nun wirklich nicht, Aleks!

Schwarzes Schaaf
15.08.2004, 15:32
1- A paparazzt, aber die ersten vier Absaetze ziehen sich etwas.

1A Trottelindikator
15.08.2004, 17:48
BLA BLA BLA

slowtiger
15.08.2004, 20:21
Feine Geschichte. Man muß ja den Autor nicht mögen, nur weil man einige seiner Bücher mag.

Nedra
17.08.2004, 14:02
Schöne Geschichte. Erhellt diesen dunklen Tag in der Bibliothek.