PDA

Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Mann, Frido (Thomas’ Enkel wundert sich.)



yellowshark
12.02.2004, 18:40
Christoph S. galt als der König der Minimalisten. Auf Klausuren bereitete er sich vor, indem er sich die Fragen durch Flirten mit weiblichen wissenschaftlichen Hilfskräften einen Tag im Voraus besorgte, auf mündliche Prüfungen, indem er bei Tutoren oder Kurswiederholern tagelang Erkundigungen über Gewohnheiten, Vorlieben und Abneigungen des jeweiligen Prüfers einholte.
Bei einem Anatomietestat saßen wir beide als erste unserer Gruppe vor der Leiche und warteten auf den Professor. „In Indien gibt’s kein frisches Obst“, sagte Christoph, „ach, ist das ein Elend!“ Ersteres war eine Mnemotechnik für sechs Nerven, letzteres Ausdruck von Erschrecken, denn: „Keine Leber!“ Tatsächlich, in dem Präparat war keine Leber, vermutlich geklaut und außerdem das Einzige, was er zusätzlich gelernt hatte, weil der Prüfer laut Fama den ersten Kandidaten einer Gruppe stets danach fragte und normalerweise wieder gehen ließ, wenn er darauf antworten konnte.
Ein paar Tische weiter stand Frido Mann allein vor einem Präparat und schaute abwechselnd in dessen Eingeweide und in seinen Anatomieatlas. Er war zu Semesterbeginn dazu gekommen, um nach Musik und Psychologie auch noch Medizin zu studieren, ein freundlicher Mensch von ruhiger und bescheidener Wesensart, soweit man das bisher beurteilen konnte.
In diesem Augenblick betrat der Prüfer den großen Saal und steuerte auf unseren Tisch zu, war aber noch weit genug entfernt, um nicht zu bemerken, dass Christoph plötzlich aufstand und wegging.
Der Prüfer nahm Platz, und fragte nach ihm. Ich gab mich ahnungslos und versuchte, ihn irgendwie hinzuhalten, als ich Christoph plötzlich am Tisch von Frido Mann entdeckte. Sie sprachen miteinander, schauten gemeinsam in seinen Atlas, dann verließ Christoph den Tisch und kehrte zu uns zurück, während Frido noch immer in das Buch schaute. Unter dem Arm trug Christoph eine Leber. „Was haben Sie denn da unter dem Arm, Herr S.?“, fragte der Professor. „Eine Leber“, antwortete Christoph, „brauchen wir nicht? Bring’ ich gleich wieder weg.“ „Moment“, rief der Prüfer, „kommen Sie mal her damit, was wissen Sie denn darüber?“ Hinter ihm konnte ich immer noch Frido Mann sehen, der sich inzwischen wieder zu seinem Präparat umgedreht hatte und ungläubig hinein schaute.

Werrnerr
12.02.2004, 20:35
Genau so eine Geschichte möchte ich nach Feierabend lesen!

slowtiger
12.02.2004, 20:36
Wundervoll. Ganz zauberhaft.

jaguro
17.02.2004, 15:35
Was da oben wohl stand?

Aporie
17.02.2004, 15:42
Auf den Punkt gebracht.