chrislenz
09.02.2004, 01:11
(Bislang nicht gepostet weil sehr lang, aus aktuellem Anlass aber jetzt doch.)
Heute ist der letzte Samstag vor Weihnachten. Die Schlacht um Hjelmsklam ist Ringelpiez mit Anfassen im Vergleich zur Lage im H&M. Ich habe ein Hemd zurückgegeben und will raus, aber jemand steht im Weg. Ein älterer Mann, in der Mitte geteilt durch die zu eng geschnürte Kordel seiner Winterjacke, steht am Eingang herum. Franz Müntefering. Er fühlt sich nicht wohl. Seine strengen Gesichtszüge haben in diesem Moment keine Richtung, sie wirken milde und alltäglich. Es ist die Zone der Väter, hier am Eingang. Während die Töchter hinten im Schlund das Grobgestrickte aus den Regalen reißen und kichern und sich drehen, um ihren Hintern zu begutachten, bleiben die Väter lieber vorn und geben vor, die Herrenpullover zu betrachten. Bis ihre Kleine endlich mit einem Arm voll bunter Niederqualitätsware auftaucht und Papi mit der Plastikkarte in Aktion treten kann. Wie so einer wirkt er. Ich drücke mich vorbei und hetze weiter in Richtung Kulturkaufhaus. Aber das soll es noch nicht gewesen sein.
Die Lage im H&M ist ein Witz im Vergleich zu dem, was sich im Kulturkaufhaus abspielt. Hier tobt die Mutter aller Schlachten. Legionen von Sympathex-Würsten verstopfen jeden Gang, die Schlangen an den Kassen winden sich in Qual, die Zeit steht still. Alle hassen alle. Als Zauberer verkleidete Studenten mit spitzen Hüten sollen für bessere Stimmung sorgen. Es ist vollkommen klar, dass sie an allem schuld sind. Was ich suche, ist laut Info genau in der Ecke gegenüber zu finden. Ich kraule diagonal durch den Laden, da kreuzt plötzlich jemand meinen Weg. Wieder Müntefering. Roter Schal, natürlich. Seine Tüten baumeln ungünstig auf der Gangseite, für mehr Beobachtungen ist keine Zeit, es ist Krieg.
Im 2. Stock finde ich, was ich suche, und stelle mich in die Kassenschlange. Und da, fünf Leute vor mir, schon wieder, Münte. Er Igel, ich Hase. Der Weg zur Kasse ist weit, wir haben alle Zeit der Welt. Er trägt schwarze, seltsam kleine Slipper mit asymmetrischen Vierecken aus hellbraunem Leder darauf genäht. An ihm wirken sie normaler als normal. In den Schuhen dunkelblaue Socken, darüber eine schwarzblaue Jeans. Dann die mittig streng geschnürte und mit allerlei Taschen und Seilzügen versehene Winterjacke von „Camel Trophy“, aus deren Kragen schließlich der rote SPD-Schal quillt. Wenn Herr Müntefering auf den Boden schaut, und das tut er ständig, sieht man, wie schnurgerade seine Haare im Nacken abgeschnitten sind, wirklich parallel zur Erdoberfläche. Nichts an ihm will auffallen, nichts ist eitel. Es geht um die Funktion. Eine Jacke soll warm halten, ein Haarschnitt soll kurz sein. Müntefering ist kein Kaschmir-Kanzler, er ist ein Partei-Soldat. In der Warteschlange strahlt er eine gewisse Autorität aus, zusammen mit der unbedingten Entschlossenheit, diese Autorität hier nicht raushängen zu lassen und ganz privat unterwegs zu sein. Jetzt gerade checkt er sein Handy, war aber nichts. Er langweilt sich zu Tode, genau wie wir alle hier. Es ist beruhigend, dass auch ein deutscher Spitzenpolitiker in der Warteschlange nicht auf die Idee kommt, einfach mal in einem der Bücher zu lesen, die er gerade unterm Arm hat. Was hat er denn überhaupt gekauft? Ein Titel lässt sich entziffern: „John F. Kennedy – Ein vollendetes Leben“. Langweilig, schenkt er bestimmt dem Kanzler zu Weihnachten. Münte guckt schon wieder nur auf den Teppich. Er steht schräg nach vorn gebeugt, sein kompakter Körper drängt zur Kasse, das ist das Einzige, was seine Ungeduld verrät. Vom Ende der Schlange her nähert sich einer der Zauberer-Studenten, ein ganz besonders hassenswertes Exemplar: Sein spitzer Hut ist neckisch abgeknickt (Eigeninitiative gezeigt, alles noch einen Tick witziger gemacht), aus seinem viel zu kurzen Umhang ragt ein Zauberstab hervor, er wippt auf seinen weißen Basketballschuhen vor und zurück, wie Holgi kurz vor dem Rennen mit Werner, und hinter seiner lustigen, kleinen Brille blitzt der Schalk. Endlich kann er den Leuten mal auf die Eier gehen und keiner darf ihn schlagen, er kriegt sogar Geld dafür. Er kommt auf mich zu. Er kramt umständlich unter seinem Umhang herum, holt eine von diesen Karamell-Goldmünzen heraus, bestimmt weich und taschenwarm, und hält sie mir hin. Ich lehne ab. Münte vorn bemerkt das Geschehen, dreht sich um, sieht den Spinner, erschrickt und dreht sich schnell wieder weg. Das war leider zu kurz für eine Verbrüderung. Immerhin habe ich es hinter mir, Müntefering aber nicht. Das Rennen ist eröffnet. Würde der Zauberspinner Münte vor der Kasse noch einholen? Und wenn ja, wie würde Münte reagieren?
Der Zauberer arbeitet sich wippend, scherzend an der Schlange entlang nach vorn, er ist eins mit seinem Job, sein Knickhut wedelt aufgeregt hin und her. Alle Leute nehmen die Münze an, ihre Gesichter sind plötzlich hell und freundlich. Der blöde Gag, den die Marketing-Abteilung sich ausgedacht hat, funktioniert einwandfrei. Münte starrt knallhart in die andere Richtung. Er hat offensichtlich keinen Bock auf Hokus-Pokus. Aber das Schicksal ist gegen ihn, der Feind naht unerbittlich. Schon ist der Zauberspinner zwei Mann hinter ihm. Münte ganz eisern. An der Kasse geht es unendlich langsam voran. Münte, du bist geliefert. Jetzt zappelt der Zauberer an seiner Seite. Müntefering wendet sich dem wippenden Spinner zu, schaut auf die Münze, lächelt, nimmt sie, bedankt sich nickend, schaut noch mal prüfend auf die Münze, als sei sie wirklich was wert, und steckt sie dann zufrieden ein. Ich fühle mich verraten. Das unsichtbare Band der gemeinsamen Verachtung, das ich zwischen Müntefering und mir wähnte, zerreist mit einem stillen Knall. Das Wortspiel „mit gleicher Münte heimzahlen“ steckt seinen Kopf aus der Hütte, wird aber sofort wieder reingeschickt. Denn die Erklärung ist nicht weit: Die Atmosphäre in unserer Schlange hier ist inzwischen zu intim, jeder kennt jeden seit 20 Minuten, alle haben sie sie angenommen, die blöde Münze, und da zieht er natürlich mit. Franz Müntefering ist ein Polit-Profi. Man schubst nicht die Mutti weg, die einem ihr Baby zum Küssen hinhält.
Müntefering ist jetzt dran mit Zahlen. Er nimmt seine Bücher und steckt sie in eine der Tüten. Dann gibt es in gebückter Haltung noch einen kleinen Kampf mit den vielen Schnüren und Haltegriffen der Tüten, alle schauen ihm dabei zu, die Jackenkordel schneidet schmerzhaft ein. Schließlich nimmt er alle Tüten mit einem mannhaften Befreiungsruck in eine Hand und geht die Treppe runter. Das letzte, was ich von ihm sehe, ist, wie er sich mit einem schnell ausgeführten Handstreich die Frisur glättet, die wegen des Bückens ein wenig in Unordnung geraten ist. Ein Profi.
Heute ist der letzte Samstag vor Weihnachten. Die Schlacht um Hjelmsklam ist Ringelpiez mit Anfassen im Vergleich zur Lage im H&M. Ich habe ein Hemd zurückgegeben und will raus, aber jemand steht im Weg. Ein älterer Mann, in der Mitte geteilt durch die zu eng geschnürte Kordel seiner Winterjacke, steht am Eingang herum. Franz Müntefering. Er fühlt sich nicht wohl. Seine strengen Gesichtszüge haben in diesem Moment keine Richtung, sie wirken milde und alltäglich. Es ist die Zone der Väter, hier am Eingang. Während die Töchter hinten im Schlund das Grobgestrickte aus den Regalen reißen und kichern und sich drehen, um ihren Hintern zu begutachten, bleiben die Väter lieber vorn und geben vor, die Herrenpullover zu betrachten. Bis ihre Kleine endlich mit einem Arm voll bunter Niederqualitätsware auftaucht und Papi mit der Plastikkarte in Aktion treten kann. Wie so einer wirkt er. Ich drücke mich vorbei und hetze weiter in Richtung Kulturkaufhaus. Aber das soll es noch nicht gewesen sein.
Die Lage im H&M ist ein Witz im Vergleich zu dem, was sich im Kulturkaufhaus abspielt. Hier tobt die Mutter aller Schlachten. Legionen von Sympathex-Würsten verstopfen jeden Gang, die Schlangen an den Kassen winden sich in Qual, die Zeit steht still. Alle hassen alle. Als Zauberer verkleidete Studenten mit spitzen Hüten sollen für bessere Stimmung sorgen. Es ist vollkommen klar, dass sie an allem schuld sind. Was ich suche, ist laut Info genau in der Ecke gegenüber zu finden. Ich kraule diagonal durch den Laden, da kreuzt plötzlich jemand meinen Weg. Wieder Müntefering. Roter Schal, natürlich. Seine Tüten baumeln ungünstig auf der Gangseite, für mehr Beobachtungen ist keine Zeit, es ist Krieg.
Im 2. Stock finde ich, was ich suche, und stelle mich in die Kassenschlange. Und da, fünf Leute vor mir, schon wieder, Münte. Er Igel, ich Hase. Der Weg zur Kasse ist weit, wir haben alle Zeit der Welt. Er trägt schwarze, seltsam kleine Slipper mit asymmetrischen Vierecken aus hellbraunem Leder darauf genäht. An ihm wirken sie normaler als normal. In den Schuhen dunkelblaue Socken, darüber eine schwarzblaue Jeans. Dann die mittig streng geschnürte und mit allerlei Taschen und Seilzügen versehene Winterjacke von „Camel Trophy“, aus deren Kragen schließlich der rote SPD-Schal quillt. Wenn Herr Müntefering auf den Boden schaut, und das tut er ständig, sieht man, wie schnurgerade seine Haare im Nacken abgeschnitten sind, wirklich parallel zur Erdoberfläche. Nichts an ihm will auffallen, nichts ist eitel. Es geht um die Funktion. Eine Jacke soll warm halten, ein Haarschnitt soll kurz sein. Müntefering ist kein Kaschmir-Kanzler, er ist ein Partei-Soldat. In der Warteschlange strahlt er eine gewisse Autorität aus, zusammen mit der unbedingten Entschlossenheit, diese Autorität hier nicht raushängen zu lassen und ganz privat unterwegs zu sein. Jetzt gerade checkt er sein Handy, war aber nichts. Er langweilt sich zu Tode, genau wie wir alle hier. Es ist beruhigend, dass auch ein deutscher Spitzenpolitiker in der Warteschlange nicht auf die Idee kommt, einfach mal in einem der Bücher zu lesen, die er gerade unterm Arm hat. Was hat er denn überhaupt gekauft? Ein Titel lässt sich entziffern: „John F. Kennedy – Ein vollendetes Leben“. Langweilig, schenkt er bestimmt dem Kanzler zu Weihnachten. Münte guckt schon wieder nur auf den Teppich. Er steht schräg nach vorn gebeugt, sein kompakter Körper drängt zur Kasse, das ist das Einzige, was seine Ungeduld verrät. Vom Ende der Schlange her nähert sich einer der Zauberer-Studenten, ein ganz besonders hassenswertes Exemplar: Sein spitzer Hut ist neckisch abgeknickt (Eigeninitiative gezeigt, alles noch einen Tick witziger gemacht), aus seinem viel zu kurzen Umhang ragt ein Zauberstab hervor, er wippt auf seinen weißen Basketballschuhen vor und zurück, wie Holgi kurz vor dem Rennen mit Werner, und hinter seiner lustigen, kleinen Brille blitzt der Schalk. Endlich kann er den Leuten mal auf die Eier gehen und keiner darf ihn schlagen, er kriegt sogar Geld dafür. Er kommt auf mich zu. Er kramt umständlich unter seinem Umhang herum, holt eine von diesen Karamell-Goldmünzen heraus, bestimmt weich und taschenwarm, und hält sie mir hin. Ich lehne ab. Münte vorn bemerkt das Geschehen, dreht sich um, sieht den Spinner, erschrickt und dreht sich schnell wieder weg. Das war leider zu kurz für eine Verbrüderung. Immerhin habe ich es hinter mir, Müntefering aber nicht. Das Rennen ist eröffnet. Würde der Zauberspinner Münte vor der Kasse noch einholen? Und wenn ja, wie würde Münte reagieren?
Der Zauberer arbeitet sich wippend, scherzend an der Schlange entlang nach vorn, er ist eins mit seinem Job, sein Knickhut wedelt aufgeregt hin und her. Alle Leute nehmen die Münze an, ihre Gesichter sind plötzlich hell und freundlich. Der blöde Gag, den die Marketing-Abteilung sich ausgedacht hat, funktioniert einwandfrei. Münte starrt knallhart in die andere Richtung. Er hat offensichtlich keinen Bock auf Hokus-Pokus. Aber das Schicksal ist gegen ihn, der Feind naht unerbittlich. Schon ist der Zauberspinner zwei Mann hinter ihm. Münte ganz eisern. An der Kasse geht es unendlich langsam voran. Münte, du bist geliefert. Jetzt zappelt der Zauberer an seiner Seite. Müntefering wendet sich dem wippenden Spinner zu, schaut auf die Münze, lächelt, nimmt sie, bedankt sich nickend, schaut noch mal prüfend auf die Münze, als sei sie wirklich was wert, und steckt sie dann zufrieden ein. Ich fühle mich verraten. Das unsichtbare Band der gemeinsamen Verachtung, das ich zwischen Müntefering und mir wähnte, zerreist mit einem stillen Knall. Das Wortspiel „mit gleicher Münte heimzahlen“ steckt seinen Kopf aus der Hütte, wird aber sofort wieder reingeschickt. Denn die Erklärung ist nicht weit: Die Atmosphäre in unserer Schlange hier ist inzwischen zu intim, jeder kennt jeden seit 20 Minuten, alle haben sie sie angenommen, die blöde Münze, und da zieht er natürlich mit. Franz Müntefering ist ein Polit-Profi. Man schubst nicht die Mutti weg, die einem ihr Baby zum Küssen hinhält.
Müntefering ist jetzt dran mit Zahlen. Er nimmt seine Bücher und steckt sie in eine der Tüten. Dann gibt es in gebückter Haltung noch einen kleinen Kampf mit den vielen Schnüren und Haltegriffen der Tüten, alle schauen ihm dabei zu, die Jackenkordel schneidet schmerzhaft ein. Schließlich nimmt er alle Tüten mit einem mannhaften Befreiungsruck in eine Hand und geht die Treppe runter. Das letzte, was ich von ihm sehe, ist, wie er sich mit einem schnell ausgeführten Handstreich die Frisur glättet, die wegen des Bückens ein wenig in Unordnung geraten ist. Ein Profi.