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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Schreiner, Ottmar



toelfelderuel
04.12.2003, 21:39
Man kann die Deutsche Bahn schmähen, doch wer sie unerotisch nennt, findet in mir einen Gegner. Mit dem ICE zu fahren löst in meinem Innern ein sinnliches Schwingen aus, immer. Selbst in verräucherten unklimatisierten Großraumwagen, in denen alles klebt; in denen Menschen versuchen, ihre schreienden Kinder durch noch lauteres Schreien zu besänftigen, weil die Schlaghand gerade vom Handy beansprucht wird, sitze ich still, geheim erregt in meinem Sessel und spüre den leichten Beben nach. Auch der alte Herr da neben mir, in seinem hellbraunen Kordanzug, schmälerte meine kleine Erfüllung nicht im geringsten. Glücklich lächelnd sah ich aus dem Fenster.

Der Mann war schon seit Frankfurt mein Nachbar, hatte aber lange geschlafen. Jetzt erwachte er, etwas unwillig zunächst, schaute um sich, warf einen Blick in den Fahrplan. Er hatte ein faltenreiches, hageres Gesicht, freundlich und ernst. Aus Nase und Ohren wucherten eisgraue, störrische Haarbüschel. Ob ich auch bis Berlin fahre, fragte er – so beginnen ja viele Gespräche im Zug.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden, das Abteil hatte sich nahezu geleert. Wir unterhielten uns über meine Ausbildung und das Saarland, irgendwann kamen wir wieder auf Berlin. Er habe ganz früher nahe Berlin gewohnt, erzählte er. Noch bevor die Mauer gebaut wurde, sei er nach Frankfurt gegangen, habe dort mit Schreibwaren gehandelt. Dadurch sei er wohlhabend geworden; nun befinde er sich im Ruhestand. Berlin habe er immer geliebt, doch sei er nie mehr dort gewesen. Nach über 40 Jahren fahre er jetzt zum ersten Mal wieder hin. Seine Familie habe nämlich damals in Liebenwalde in Brandenburg ein Anwesen mit Haus besessen. Nach der Flucht seien DDR-Bürger dort eingezogen. Nun endlich sei das Haus frei geworden.
Ich mochte mir nicht vorstellen, dass er etwa mithilfe schmieriger Anwälte eine Mutter mit acht Kindern aus dem Haus gejagt hatte und gab mich mit der Erklärung „gütliche Einigung“ zufrieden. Das Haus war offenbar baufällig, denn er wollte es nur begutachten, um zu entscheiden, ob ausgebessert oder abgerissen werden sollte. Später einmal wollte er dort leben.

Er konnte gar nicht aufhören, über Berlin zu reden. Was sich alles verändert habe, fragte er mich, eine anspruchsvolle Frage angesichts des Zeitraumes. „Sie werden auch heute keine Mauer finden“, sagte ich. Er strahlte mich an. „Wissen Sie, was ich heute machen werde? Darauf freue ich mich schon seit Monaten! Ich steige am Bahnhof Zoo aus, und dann mache ich in Berlin die Nacht durch, morgen fahre ich dann weiter nach Liebenwalde! Ich will mir alles nochmal ansehen, was sich geändert hat... die Nacht in Berlin durchmachen...“
Ob er denn schon wisse, was er sich mitten in der Nacht anschauen wolle, fragte ich ihn, und er erwiderte, dass er einfach vom Zoo zum Brandenburger Tor laufen werde, und dann in den Osten hinein. Ein fantastischer Plan, einerseits, doch ich sorgte mich etwas, ob es wirklich eine gute Idee war, nach dieser Zugfahrt nachts durch eine völlig fremde Stadt zu wandern. Ehrlich gesagt bezweifelte ich ernsthaft, dass er das Brandenburger Tor finden würde, aber es gab ja immer noch Taxis, und so hörte ich den schwärmerischen Ausführungen des alten Mannes gern zu.
„Haben Sie Lust auf ein Bier? Ich lade Sie ein!“, sagte ich irgendwann, denn das Gespräch verlangte geradezu danach. „Ein Bier... meinen Sie? Gut, dann gehen wir!“

Der Speisewagen war fast leer, nur Ottmar Schreiner saß an einem Tisch und las Zeitung.
Ich holte zwei Bier und stellte mich mit dem alten Herrn an einen halbrunden Tisch bei der Theke. Er erzählte weiter, über das Haus, wie teuer ein Abriss sei, dass er so gern dort wohnen würde. Das Bier war schnell geleert, die nächste Runde übernahm er, doch als ich danach vorschlug, dass es doch nun wieder an mir sei, lehnte er ab und sagte, er wolle sich noch ein wenig ausruhen. Er ging zurück ins Abteil, ich trank noch ein Bier und schaute mir Ottmar Schreiner an. Dieser hatte nicht einmal aufgeschaut, als wir hineingekommen waren, und noch immer las er konzentriert Zeitung, vor sich einen vollen Aschenbecher und eine kleine Flasche Wein. Der Stallgeruch der alten Arbeiterpartei umwehte mich, und zufrieden über den Verlauf des Abends begab auch ich mich wieder zu meinem Platz.
Mein Nachbar schlief schon, ich sah wieder aus dem Fenster und entdeckte einen Pickel in meinem Gesicht. Bald würden wir in Berlin sein.

Da war auch schon Spandau, gleich würde das Messegelände kommen, Charlottenburg, Savignyplatz, Zoo. Vorsichtig rüttelte ich an seinem Arm.
„Wir sind da! Wir sind in Berlin! Schauen Sie mal, Sie sind wieder in Berlin! Es dauert nicht mehr lange bis zum Zoo, wollte Ihnen nur Bescheid sagen-“
Mit kleinen, alten, müden Augen sah er mich an, brummte etwas. „Ach“, sagte er verschlafen und wackelte leicht mit dem Kopf, „ich kriege noch einen Anschlusszug. Ich fahre bis Ostbahnhof durch und nehme den dann.“

Der Admiral
05.12.2003, 01:30
Herrliche Geschichte.
Der Prominente kommt, äh, nun ja, etwas zu kurz, aber den alten Berlinbesucher, doch, den hätte ich auch gerne getroffen.

Streithaehnchen
05.12.2003, 09:35
Ich kenne den Prominenten nicht mal, bzw. habe ihn googeln müssen.

Sehr schöne Geschichte trotzdem.

Valmont
05.12.2003, 09:39
Sehr schön! Herzwärmende Berlin-Story. Und Ottmar Schreiner rotweinversonnen im ICE-BordBistro, das ist so stimmig und so passgenau wie Gina Wild in der SAT1-Kantine.