Jeremy
18.03.2003, 15:13
Ein Märzsonntag gegen halb eins auf der Kastanienallee in Berlin Prenzlauer Berg. Die Sonne scheint so, wie man es schon vergessen hatte den Februar über. Im Schwarzsauer ist draussen kein Platz mehr frei und so gehe ich zwei Häuser weiter ins Letscho. Das Letscho ist im Hochparterre und sehr klein, dafür hat es eine hohe Miniveranda, auf die die Sonne genauso schön scheint wie vors Schwarzsauer.
Ich gehe hinein und möchte Backwaren und Coffeinhaltiges bestellen. Etwas unentschlossen beginne ich mit dem Kaffee. Neben mir steht plötzlich ein Mann. Es ist Christoph Schlingensief. Als mir nicht sofort nach dem Kaffee die passende Backware auf der Zunge liegt, grätscht Herr Schlingensief längs in meine Bestellung hinein. Es ist aber nicht unangenehm, weil ich äusserst unentschlossen bin und mehr Bedenkzeit gut gebrauchen kann. Wahrscheinlich hat er nicht bemerkt, dass ich noch dran war. Die Verkäuferin schon. Nun aber nimmt sie ersteinmal Herrn Schlingensiefs Bestellung auf. Sie notiert ein Vanille-Croissant und zwei Aryuveda-Tees. Davon gibt es verschiedene Sorten, zwischen denen er sich routiniert entscheidet.
Mir wird klar, dass das Mädchen hinter ihm irgendwie zu ihm gehört. Sie ist Mitte Zwanzig, hat blondes kurzes Struwwelhaar, leicht rötlich nachgefärbt. Ich lese gerade „Deutsche Einheit“ von Joachim Lottmann und genauso habe ich mir die dort beschriebenen Theaterfreundinnen vorgestellt. Sie sieht engagiert aus und richtet Augen, Aura, Aufmerksamkeit stets in Richtung Christoph. Sie nennt ihn beim vollen Vornamen, keine Verkürzung, keinen Kosenamen, das fällt auf. Sie ist überhaupt nicht unsympathisch, aber ich habe das Gefühl, dass eine Autobombe auf der Kastanienallee explodieren könnte und sie würde den Blick nicht von Christoph wenden.
Nachdem Herr Schlingensief bestellt hat, bin ich nochmal dran, die Verkäuferin hat mich nicht vergessen. Aus Neugier auf ungewohnte Lebensmittel bestelle ich auch ein Vanille-Croissant. Dann gehe ich hinaus und setze mich an eins der beiden Tischbretter, gegenüber von dem Pärchen. Sie wendet mir den Rücken zu, er könnte mich ansehen, wenn er einen Grund dazu hätte.
Ich muss meinen Autobombeneindruck revidieren, denn das sympathische Mädchen liest in der Zeitung, während sie Christoph gegenübersitzt. Sie würdigt ihn keines Blickes mehr. Herr Schlingensief liest auch, und zwar die Werbebeilage der Zeitung. Es ist der neue MediaMarkt-Prospekt.
Beide lesen sehr vertieft und sprechen nicht miteinander. Zwischendurch legt das Mädchen die Zeitung hin und geht hinein. Kurze Zeit später erscheint sie mit zwei Säften. Sie sehen frisch gepresst aus und bestehen jeweils aus zwei Komponenten, die sich nicht vermischen. Auf das naheliegende KiBa komme ich aber erst später, weil mir dieses Getränk zu normal vorkommt für einen Herrn Schlingensief. Ich tippe daher auf Guave Birne. Frische Guaven sind allerdings schwer zu bekommen, dann wäre es doch kein selbst gepresster Saft.
Während das Mädchen drinnen mit der Saftkaufanbahnung beschäftigt ist, blickt Herr Schlingensief kurz auf und überlegt offenbar, ob er die Zeitung an sich nehmen soll. Er sieht kurz nach dem Mädchen, dann wieder auf die Zeitung und entscheidet sich gegen die Zeitungsansichnahme. Er liest wieder den MediaMarkt-Prospekt. Das tut er nun schon eine viertel Stunde, und zwar hochkonzentriert. Allein auf der Titelseite verbringen seine Augen ungestoppte fünf Minuten. Dort ist ein Laptop abgebildet, meine ich auf die Distanz zu erkennen. Weil dort fast immer ein Laptop abgebildet ist.
Nun liest er im Inneren des Prospekts, immer noch bei Computermodellen. Wahrscheinlich vergleicht er technische Daten, denn unter den Bildern steht häufig „Abbildung ähnlich“ und das traue ich dem Herrn Schlingensief wimpernungezuckt zu, dass er Computer nicht nach dazu noch falschen Bildchen bewertet.
Allerdings liest er für mich kaum nachvollziehbar lange diesen Prospekt. Was interessiert ihn daran? Plant er vielleicht ein neues Projekt, nimmt er vielleicht die Gesellschaft ein weiteres Mal von ihrer kalten Konsumkehrseite auf die Schippe? Oder braucht er schlicht ein neues Laptop?
Ich versuche, mir Gründe auszumalen, warum das bekannteste kulturberufliche Enfant Terrible der Bundesrepublik seine Freizeit mit dem Auswendiglernen roter Computerprospekte verbringen möchte. Es will mir nicht gelingen. Das liegt bestimmt an der Unvereinbarkeit von Kultur und Kommerz, die einem noch immer oder schon wieder vorschwebt. Dabei hatte Herr Schlingensief eine Fernseh-Show auf MTV. Er ist trotzdem schwer in die interessierte Konsumenten-Schublade zu zwängen.
Nach zwanzig Minuten Lektüre und Saft entschliesst sich das Paar, aufzustehen und zu gehen. Schaderweise lassen sie weder Zeitung noch Werbebeilage liegen. Ich hatte mir die Seite und das Blickfeld gemerkt, auf die Herr Schlingensief am längsten und intensivsten geguckt hat.
Sie gehen in den benachbarten Kiez-Spät-Kauf und kommen kurz danach wieder hinaus, jeder eine weisse Plastiktüte in der Hand. Diese sind fast durchsichtig und so kann ich in Herrn Schlingensiefs Tüte eine Süssigkeit ausmachen. Maltesers, die rote Packung sticht ins Auge, auch durch die milchige Folie. Herr Schlingensief und das Mädchen gehen die Kastanienallee hinunter. Nach einigen Metern nimmt er ihre Hand und drückt sie fest in seine. Das ist die erste Geste der Vertrautheit zwischen den beiden, und sie ist eindeutig. Dann kann ich sie nicht mehr sehen.
Ich gehe hinein und möchte Backwaren und Coffeinhaltiges bestellen. Etwas unentschlossen beginne ich mit dem Kaffee. Neben mir steht plötzlich ein Mann. Es ist Christoph Schlingensief. Als mir nicht sofort nach dem Kaffee die passende Backware auf der Zunge liegt, grätscht Herr Schlingensief längs in meine Bestellung hinein. Es ist aber nicht unangenehm, weil ich äusserst unentschlossen bin und mehr Bedenkzeit gut gebrauchen kann. Wahrscheinlich hat er nicht bemerkt, dass ich noch dran war. Die Verkäuferin schon. Nun aber nimmt sie ersteinmal Herrn Schlingensiefs Bestellung auf. Sie notiert ein Vanille-Croissant und zwei Aryuveda-Tees. Davon gibt es verschiedene Sorten, zwischen denen er sich routiniert entscheidet.
Mir wird klar, dass das Mädchen hinter ihm irgendwie zu ihm gehört. Sie ist Mitte Zwanzig, hat blondes kurzes Struwwelhaar, leicht rötlich nachgefärbt. Ich lese gerade „Deutsche Einheit“ von Joachim Lottmann und genauso habe ich mir die dort beschriebenen Theaterfreundinnen vorgestellt. Sie sieht engagiert aus und richtet Augen, Aura, Aufmerksamkeit stets in Richtung Christoph. Sie nennt ihn beim vollen Vornamen, keine Verkürzung, keinen Kosenamen, das fällt auf. Sie ist überhaupt nicht unsympathisch, aber ich habe das Gefühl, dass eine Autobombe auf der Kastanienallee explodieren könnte und sie würde den Blick nicht von Christoph wenden.
Nachdem Herr Schlingensief bestellt hat, bin ich nochmal dran, die Verkäuferin hat mich nicht vergessen. Aus Neugier auf ungewohnte Lebensmittel bestelle ich auch ein Vanille-Croissant. Dann gehe ich hinaus und setze mich an eins der beiden Tischbretter, gegenüber von dem Pärchen. Sie wendet mir den Rücken zu, er könnte mich ansehen, wenn er einen Grund dazu hätte.
Ich muss meinen Autobombeneindruck revidieren, denn das sympathische Mädchen liest in der Zeitung, während sie Christoph gegenübersitzt. Sie würdigt ihn keines Blickes mehr. Herr Schlingensief liest auch, und zwar die Werbebeilage der Zeitung. Es ist der neue MediaMarkt-Prospekt.
Beide lesen sehr vertieft und sprechen nicht miteinander. Zwischendurch legt das Mädchen die Zeitung hin und geht hinein. Kurze Zeit später erscheint sie mit zwei Säften. Sie sehen frisch gepresst aus und bestehen jeweils aus zwei Komponenten, die sich nicht vermischen. Auf das naheliegende KiBa komme ich aber erst später, weil mir dieses Getränk zu normal vorkommt für einen Herrn Schlingensief. Ich tippe daher auf Guave Birne. Frische Guaven sind allerdings schwer zu bekommen, dann wäre es doch kein selbst gepresster Saft.
Während das Mädchen drinnen mit der Saftkaufanbahnung beschäftigt ist, blickt Herr Schlingensief kurz auf und überlegt offenbar, ob er die Zeitung an sich nehmen soll. Er sieht kurz nach dem Mädchen, dann wieder auf die Zeitung und entscheidet sich gegen die Zeitungsansichnahme. Er liest wieder den MediaMarkt-Prospekt. Das tut er nun schon eine viertel Stunde, und zwar hochkonzentriert. Allein auf der Titelseite verbringen seine Augen ungestoppte fünf Minuten. Dort ist ein Laptop abgebildet, meine ich auf die Distanz zu erkennen. Weil dort fast immer ein Laptop abgebildet ist.
Nun liest er im Inneren des Prospekts, immer noch bei Computermodellen. Wahrscheinlich vergleicht er technische Daten, denn unter den Bildern steht häufig „Abbildung ähnlich“ und das traue ich dem Herrn Schlingensief wimpernungezuckt zu, dass er Computer nicht nach dazu noch falschen Bildchen bewertet.
Allerdings liest er für mich kaum nachvollziehbar lange diesen Prospekt. Was interessiert ihn daran? Plant er vielleicht ein neues Projekt, nimmt er vielleicht die Gesellschaft ein weiteres Mal von ihrer kalten Konsumkehrseite auf die Schippe? Oder braucht er schlicht ein neues Laptop?
Ich versuche, mir Gründe auszumalen, warum das bekannteste kulturberufliche Enfant Terrible der Bundesrepublik seine Freizeit mit dem Auswendiglernen roter Computerprospekte verbringen möchte. Es will mir nicht gelingen. Das liegt bestimmt an der Unvereinbarkeit von Kultur und Kommerz, die einem noch immer oder schon wieder vorschwebt. Dabei hatte Herr Schlingensief eine Fernseh-Show auf MTV. Er ist trotzdem schwer in die interessierte Konsumenten-Schublade zu zwängen.
Nach zwanzig Minuten Lektüre und Saft entschliesst sich das Paar, aufzustehen und zu gehen. Schaderweise lassen sie weder Zeitung noch Werbebeilage liegen. Ich hatte mir die Seite und das Blickfeld gemerkt, auf die Herr Schlingensief am längsten und intensivsten geguckt hat.
Sie gehen in den benachbarten Kiez-Spät-Kauf und kommen kurz danach wieder hinaus, jeder eine weisse Plastiktüte in der Hand. Diese sind fast durchsichtig und so kann ich in Herrn Schlingensiefs Tüte eine Süssigkeit ausmachen. Maltesers, die rote Packung sticht ins Auge, auch durch die milchige Folie. Herr Schlingensief und das Mädchen gehen die Kastanienallee hinunter. Nach einigen Metern nimmt er ihre Hand und drückt sie fest in seine. Das ist die erste Geste der Vertrautheit zwischen den beiden, und sie ist eindeutig. Dann kann ich sie nicht mehr sehen.